An die Wand gedrückt

Jenny Richter

von Jenny Richter

Story

Ich dachte, ich könnte ihm zeigen, wie kaputt er ist und dass er einfach nur Liebe braucht, um zu heilen.

Ich dachte, er würde NIEMALS mit mir so sein, wie er gelernt hatte mit anderen zu sein.

Ich dachte, ich sei sicher. Schlauer. Besser. Erhaben. Besonders.

Ich hatte keine Angst. Auch nicht als ich immer wieder blitzeblaue Arme hatte, weil wir uns gegenseitig kniffen und sein Kneifen stets doller war als meines und er meistens kein Ende fand. Auch nicht, nachdem er mich zwei Mal auf’s Bett geschubst hatte, mich immer wieder anbrüllte und abschätzig betitelte.

Doch ich wusste, ich musste weg, und ich wagte den Schritt, suchte mir eine eigene Wohnung, zog um, lernte jemanden kennen, und erst DANN…

Als ich nochmal bei ihm war und er mein Handy, ohne zu fragen, aus meiner Tasche nahm, meine Nachrichten las und mich mit bissigem Ton nach dem Mann fragte, mit dem ich schrieb… Ich ihn aufforderte, mir mein Handy zu geben, er es hochhielt, ich ihm mein Handy aus der Hand nehmen wollte und er mich schließlich mit einem seiner starken Arme an die Wand drückte…

DA wusste ich, ich war naiv. Ich hatte zu lange gewartet. Ich hätte eher gehen müssen. Das Kneifen und Schubsen, das Brüllen und Beleidigen, der Alkohol und die Drogen, das alles waren Warnungen, die ich missachtet hatte. Über die ich mich erheben wollte.

Doch JETZT hatte ich Angst. Eine Angst, die mich noch über 5 Jahre begleitete. Insbesondere nachdem 9 Monate später an meinem Geburtstag eine Nachricht von ihm kam. Bereits die Nachricht bereitete mir Unbehagen, ohne dass ich seine (neue) Nummer kannte. Und dann sah ich mir das Profilbild an und in mir schnürte sich alles zusammen. Fotorahmen mit Bildern von ihm und mir. Ab diesem Moment fühlte ich mich nicht mehr sicher, irgendwie verfolgt. Ich hatte Angst davor, dass er mir auflauert. Angst davor, dass er mir etwas Böses will. Ein Jahr später hatte ich Angst davor, dass er mein Baby sieht und ihm etwas tun könnte. Ich hatte Angst davor, dass er mich vielleicht niemals in Ruhe lassen würde.

Einige Zeit später testete mich das Universum auf ganz unliebsame Weise: Meinem Mann passierte ein Missgeschick beim Haareschneiden und als ich ihn sah, stiegen Panik, Ekel, Angst und Ablehnung in mir auf – er erinnerte mich an IHN. Ich konnte meinen Mann lange Zeit nicht anschauen. Es tat mir in der Seele weh und gleichzeitig war ich so wütend und so voller Abscheu. Das verletzte ihn sehr und brachte mich an den Punkt, an dem ich begann, mich mit meiner Angst auseinanderzusetzen.

Zwei Jahre später stellte ich mich meinen Dämonen und fuhr in den Ort des Geschehens, an seiner damaligen Wohnung vorbei. Sein Name stand nicht mehr am Briefkasten. Ob er noch lebt oder nicht, ob er umgezogen ist oder einfach anders heißt, ich konnte spüren, dass das nicht mehr wichtig war. Die Angst hatte sich gelegt. Über die Zeit hatte ich mich nach und nach von ihr und ihm freimachen können. Zum Glück.

© Jenny Richter 2024-09-11

Genres
Anthologien
Stimmung
Herausfordernd, Reflektierend, Challenging
Hashtags