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Neo Klinger

von Neo Klinger

Story

Die digitale Anzeige der Weltuntergangsuhr leuchtet einmal mehr auf. Allein 211 Tage, 3 Stunden und 5 Minuten trennen die Bevölkerung vom endgültigen Ende. Einsam leuchten diese Zahlen durch die dunkle Nacht, als einzige Lichtquelle in der verdammten Stadt. Der blaue Schein lässt nur vage die Umrisse von Bauten erkennen. Vereinzelt suchen wenige Bewohner ihren Weg unter dem unverändert schwarzen Himmel. Sie suchen unentwegt, unbeirrt, konstant, ohne Pause. Nur eine Gestalt in Hoodie, etwa fünfzig Meter weit entfernt, beobachtet dieses Treiben vom Dach eines Hauses. Sie wirkt nervös, probiert sie ja schon seit Wochen, sich in den Tod zu stürzen. Doch scheint es bei dem Ausblick eine unmachbare Tat. Er zieht einen in den Bann, man kann nicht anders als den Gestalten beim Schleichen durch die ewige Dunkelheit, einzig beleuchtet durch eine einzelne Lichtquelle, zuzusehen. Woran sie wohl denken? Es ist nicht schwer zu wissen, woran sie nicht denken. Alle wissen, was nicht gesagt oder gedacht werden darf. Alles muss weitergehen. 

Die dunkle Gestalt lässt sich einmal mehr auf der Dachkante nieder. Der einfache Schritt, der Leben und Tod trennt, der binnen Sekunden alles beenden kann, muss einmal mehr warten. Heute Abend kommt, wie an all den anderen Abenden, ein seltsames Gefühl auf. Diese gelassene Gleichgültigkeit, die einen nicht viel mehr als existieren lässt. Genussvoll, fast dekadent riskant baumeln die Beine über einem schwarzen Abgrund. Plötzlich ist Überleben zweitrangig. Die Kapuze ins Gesicht gezogen, kleben die Augen der Gestalt an der Anzeige. Geduldig beobachtet sie, wie die Uhr tickt. Einfache Zahlenfolgen, die sowohl Tod als auch Leben bedeuten. Sie können Hoffnung geben oder dieselbe im Keim ersticken.

Ein Kiesel fällt in die Tiefe. Der Luftzug ist an den Beinen spürbar. Er fällt, immer weiter. Er fällt zu tief, um den Aufprall zu hören. Die Gestalt lässt sich nicht beirren und sitzt weiterhin, in die eigenen Gedanken vertieft, bewegungslos da. Die Gleichgültigkeit weicht einer angenehmen Ruhe. Sie blickt in den tiefen Abgrund. Die eingebrannten Zahlen ticken weiter, unaufhaltsam. 

Dann kommen die Schmerzen. Sobald man sich seines Körpers zu bewusst ist, spürt man ihn. Rückenschmerzen, trockene Augen, Juckreize, Kälte. Die Gestalt krümmt sich. Plötzliche Müdigkeit überfällt sie und lässt sie beinahe in den Abgrund stürzen. Angst überfällt sie, der automatische Überlebensinstinkt trägt sie weg von der Kante, von der Gefahr. Am Rücken liegend und schwer atmend versucht sie sich wieder zu beruhigen. Die eingebrannten Zahlen ticken vor einem tiefschwarzen Himmel weiter. Sie schließt die Augen. 

Und träumt. Sie träumt vom Fallen. Kein Aufkommen, keine physische Hülle, nur ein ewiges Fallen. Sie genießt es, genießt den Luftzug, die schiere Endlosigkeit. Das ist Utopie. Das ist eine lebenswerte Zukunft. Die Welt wird dieselbe sein, wenn die Gestalt aufwacht. Das Ende wäre vielleicht näher, doch alles andere, die Blindheit vor dem Untergang, die Schmerzen, der Abgrund, nichts wird anders sein. Doch zumindest für ein paar Stunden darf sie nicht ans Ende, sondern an den Weg denken. Andernfalls ist sie schon tot. 

© Neo Klinger 2025-04-24

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Traurig, Angespannt
Hashtags