Anna

Norbert Donnerstag

von Norbert Donnerstag

Story

Als ich aus der Straßenbahn der Linie 27 ausstieg, roch ich den Frühling in Berlin. Schon Rainhard Fendrich hatte ihn in den 80ern besungen – damals gab es noch zwei ungleiche Berliner Schwestern. Die eine war cool – hip, wie es heute heißt – und die andere eine graue Maus. Eine Mauer trennte ihre Sehnsucht nacheinander, schnitt ihnen mitten ins Fleisch wie eine klaffende Wunde, an der man nicht verblutet, aber die so tief ist, dass man den Schmerz jeden Tag spürt.

Ich ging die Anna Ebermann-Straße entlang. Ein kühler Wind ließ die Blätter an den Bäumen zittern, die gerade erst langsam wieder zum Leben erwachten. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf und steckte die klammen Hände in die Jackentaschen. März in Berlin ist nicht August in Sevilla. Die Kapuze dämpfte ein wenig die Geräusche der Stadt. Es war früher Abend. Berlin wollte nach Hause, zu Kind und Kegel, zu Abendbrot und Fernseh-Soaps.

Ich gähnte. Auch für mich neigte sich ein langer Tag dem Ende zu.

Hinter mir hörte ich Schritte. Instinktiv drehte ich mich um – Großstadterfahrung, Alter – aber sah niemanden. Das Geräusch der Absätze auf dem Asphalt wurde lauter. Ich drehte mich in die andere Richtung – die, in die ich unterwegs gewesen war – aber ich war alleine. Ich zitterte, und das nicht nur vor Spätwinterkälte.

Immer mehr Schritte vereinigten sich zu einem Stakkato. Lauter, eindringlicher, gleichförmiger. Schon mischten sich Rufe und Gebrüll darunter. Ich hielt mir die Ohren zu und mein Kopf sagte mir: “Trottel, hier ist doch niemand. Du bist ganz allein.” Aus Angst schloss ich die Augen und nun sah ich sie vor mir : Männer in braunen Hemden und mit Schnürstiefeln, grölend, brandschatzend. Ihr Gebrüll war kaum noch auszuhalten, sie kamen auf mich zu, hunderte, tausende von ihnen. Die rechten Arme in die Höhe gestreckt, schworen sie synchron ihrem Führer die Treue. Ich fiel auf den schmutzigen Asphalt und verbarg meinen Kopf unter den Armen. Gleich, gleich würden sie mich zertrampeln, wie bei einer Stampede des Grauens. Ihre Stiefel waren schon so nahe, dass ich die frische Wichse riechen konnte. Ihr Triumphgeschrei brachte mein Trommelfell zum Beben. Tausend Springerstiefel wollten mich zermalmen.

“Jeht es Ihnen jut?”

Ich wagte kaum aufzublicken. Das Getrampel war verstummt. Der Wind hatte aufgefrischt. Ich blickte einem Mann in sein offensichtlich besorgtes Gesicht.

Ich stotterte. “Jaaa, äh, danke, also… alles in Ordnung.”

“Na dann ist ja jut.” Er hielt mir seine Hand hin und ich zog mich daran hoch. Dann ging er weiter und verschwand in der Dunkelheit des Spätwinterabends.

Anna Ebermann (1891 – 1944), Widerstandskämpferin, ermordet von den Nazis in Plötzensee.

© Norbert Donnerstag 2022-01-25

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