„Naa!!! De Christl, mei Schnatterling“, ist immer noch der Ausruf, wenn ich bei der Tür hineingehe. Sie ist jetzt fast 95 Jahre und lebt im Altersheim. Und dann erzählt sie von früher, und dass die Zeit in unserem Haus ihre schönste war. Es war ja auch die Zeit ihrer Jugend und ihrer Verliebtheit. Anna war unsere Dirn, wie die Hausgehilfinnen damals hießen. Die jungen Frauen erlernten damals nur selten einen Beruf, sondern verdienten sich „im Dienst“ eine Aussteuer für die Hochzeit.
Im Haus meiner Eltern, das keineswegs groß war, lebten mindestens 10 Leute: die Eltern, 4 Kinder, die Großmutter, Anna und 2 – 3 Gesellen. Für sie alle musste gekocht werden, gewaschen und geputzt. Aber Anna war viel mehr für uns als eine Angestellte – sie war Bezugsperson und Spielgefährtin. Sie war immer da, immer geduldig, immer gesellig. Wenn sie die Holzböden auskehrte und auf den Knien schrubbte, saßen wir, meine Schwester und ich, auf einem Tisch oder einer Anrichte, und wenn sie die Möbel weiterrückte, hob sie auch uns auf den nächsten Platz, denn wir durften den Boden nicht berühren. Neben dieser schweren Arbeit erzählte sie uns Geschichten, oder von früher, oder wir sangen alle Kinderlieder durch. Anna schlief auch bei uns und brachte uns ins Bett. Meine Mutter musste in der Schuhmacherwerkstatt meines Vaters helfen, die Kunden betreuen und den umfangreichen Haushalt meistern. Sie war oft krank und abwesend. Ich hatte viel Angst um sie, aber Anna gab mir Verlässlichkeit und Geborgenheit. Ich liebte sie.
Annas Eltern wohnten in einer kleinen Wohnung im nächsten Dorf. Wenn Anna freihatte, ging sie natürlich nach Hause. Ich erinnere mich, dass meine Schwester und ich oft mit ihr kamen und dann bei „Annamami“ übernachteten. Auf der kleinen „Lab“ stand ein alter Tisch mit einer großen Schublade. Und in dieser Schublade war altes Spielzeug von Anna. Die Faszination der alten einarmigen Stoffpuppe war groß. Ich konnte nie genug kriegen, in dieser Schublade herumzukramen: Stoffbänder, Mascherl, alte Puppenkleider, ein Kreisel, Puppengeschirr und noch andere Schätze. Am Abend gab es Kakao in speziellen Krügeln mit unseren Namen aufgemalt. Wir waren sehr stolz darauf.
Anna war auch eine Meisterin im Gestalten von Festen. Wenn Mami oder Tati Geburtstag hatten, bereitete sie immer etwas mit uns vor. Dann lag etwas ganz Geheimnisvolles in der Luft, um nur ja nichts zu verraten. „Es war oft lustig bei euch, und ich durfte überall mitmachen! Das kannte ich von zu Hause nicht.“ Wiederholt sie jetzt sehr oft.
Leider – für uns– lernte sie in unserem Haus auch ihren zukünftigen Mann kennen und so verließ sie uns, als ich 4 Jahre alt war. Mein Schmerz war so groß, dass ich ein Kissen nass weinte. Sie weinte auch und versprach uns, dass wir sie jederzeit besuchen können. Und das taten meine Schwester und ich auch abwechselnd und schliefen dann bei ihr. Aber es war nie mehr dasselbe. Anna ist heute noch in unserem Bewusstsein ein fixer Teil unserer Familie.
© Christine Sollerer-Schnaiter 2020-11-08