Anno dazumal

Ulrike Sammer

von Ulrike Sammer

Story

Ich wuchs in der Nachkriegszeit in Wien auf. Wenn ich Bilder aus meiner frühesten Kindheit vor meinem inneren Auge aufsteigen lasse, habe ich das Gefühl, aus einer fremden Galaxie zu kommen. Und wenn ich meinen Enkelkindern etwas davon erzähle, sehen sie mich sehr erstaunt an. Niemals hat sich das Leben so verändert wie in diesen letzten 80 Jahren. Zu keiner Zeit wurde von älteren Menschen so viel an Umstellungen abverlangt. Es gab eine ganze Reihe von Berufen, die schon lange „ausgestorben“ sind.

Als Erstes taucht in meiner Erinnerung der Lumpensammler auf. Er fuhr mit einem offenen, hölzernen Wagen, von einem Pferd gezogen, laut rufend durch die Straßen und erbat Alteisen, Fetzen und Papier.

Dann erinnere ich mich an einen Mann, der auf seiner Schulter, nur durch einen Jutesack geschützt, einen schweren Eisblock in die jeweiligen Haushalte trug. Wir waren die stolzen Besitzer eines Eiskastens. Das war eine Holzkiste, die innen mit Blech ausgekleidet war. Beim Eisblockverkäufer konnte man eine ganze, halbe oder viertel längliche Eisstange kaufen, die irgendwo in einem Eiskeller erzeugt wurde. Die kam in den Eiskasten und musste natürlich von Zeit zu Zeit erneuert werden.

Sehr beeindruckt war ich von alten Bäuerinnen, die aus dem benachbarten Burgenland kamen und Selbstgemachtes von Haus zu Haus anboten. So trugen sie in großen Rucksäcken schwere Flaschen mit Himbeersaft oder Gläser mit Honig. Das bekam man damals in der Stadt nicht zu kaufen. Ihre Rücken waren schon ganz krumm. Wie sie es in Ermangelung von Zügen oder Bussen bis nach Wien geschafft haben, ist mir ein Rätsel.

Viel leichter trugen da Frauen, mit selbstgepflückten Schneerosen oder Schneeglöckchen. Jeder versuchte in dieser schlechten Zeit irgendetwas anzubieten. Man war kreativ. Erdäpfel und Zwiebeln wurden von den Bauern auf Holzwägen zu den Stadtbewohnern gebracht. Sie boten allerdings immer große Säcke mit ihrem Gemüse an und wir hatten keine Keller, wo man sachgerecht lagern konnte.

Ich habe jedenfalls großen Respekt vor dem Einfallsreichtum in der damaligen Zeit. Es gab kaum bürokratische Hindernisse. So konnte jeder seine Einfälle umsetzen. An meiner Straßenecke wohnte eine ältere Schauspielerin, der man keine Rollen mehr anbot, die aber ihren leicht behinderten Sohn durchbringen musste. So ließ sie am Rande ihres Gartens eine winzige Verkaufsbude errichten, in der sie Eislutscher anbot. Ein paar Häuser weiter richtete eine Frau in ihrem ebenerdigen Wohnzimmer eine kleine Greisslerei ein. Wir waren sehr froh, dort ein paar Grundnahrungsmittel kaufen zu können. Unweit spritzte ein Mann einen alten Tennisplatz mit seinem Gartenschlauch bei den ersten Minusgraden an, bis er ein schön glattes Eis zum Schlittschuhlaufen hatte. Natürlich hatten wir keine Schlittschuhe, aber verstellbare Kufen, die wir an unsere Winterschuhe schraubten. Ich denke sehr gerne an diesen Treffpunkt der Kinder und Jugendlichen bei lauter Radiomusik.


© Ulrike Sammer 2025-01-30

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