Anstands-Wau-Wau

Gabriela Rodler

von Gabriela Rodler

Story

Mitte der 60er Jahre, ich war 14 Jahre alt, kam meine beste Freundin Ilse, die ein Jahr älter war als ich zu mir auf Besuch. Sie wohnte im Nachbarhaus und im Sommer verbrachten wir viel Zeit miteinander. An diesem Sommernachmittag erzählte sie mir aufgeregt, dass sie einen Freund hatte. Ihre Eltern durften nichts davon wissen. Ilse hatte schon für nächsten Tag einen Treffpunkt mit dem jungen Mann vereinbart, nun brauchte sie mich als Alibi. Wir vereinbarten, dass wir beide zu unseren Eltern sagten, wir gingen spazieren. In unserer kindlichen Naivität bedachten wir nicht, wie ungewöhnlich und auffällig unser Spaziergang war, da wir meistens nur zu Hause waren.

Ilses Freund sollte einen befreundeten Jungen mitbringen, der war für mich als Begleitung gedacht. Ich war neugierig, wie der Freund aussehen würde. Zu der Zeit schwärmte ich für den Schauspieler Pierre Brice und ein anderer männlicher Typ interessierte mich nicht. Am Nachmittag gingen wir los, trafen auch wirklich die beiden Burschen in der Stadt. Der mir zugedachte Junge war meilenweit davon entfernt an meinen Schwarm heranzureichen. Ich machte gute Miene aus Freundschaft zu Ilse. Gemeinsam schlenderten wir zu einem großen Park, Ilse Händchen haltend mit ihrem Freund. Wir beiden Anhängsel trotten hinterher, mit gehörigem Abstand zwischen uns. Im Park angelangt, verzog sich Ilse mit Freund auf eine Bank, die gut geschützt vor unliebsamen Blicken hinter einem Strauch stand. Der Bursche und ich suchten uns ebenfalls eine Bank und schwiegen uns an. Ich war wohl auch nicht sein Typ. Das war mir aber ziemlich egal und eigentlich wollte ich am liebsten wieder nach Hause gehen. In der heutigen Zeit, hätte wohl jeder von uns sein Handy gezückt, aber damals blieb uns nur ein schleppender Smalltalk. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Ilse mit Anhang wieder zum Vorschein. Wir vier spazierten durch den Park zurück in die Stadt. Dort verabschiedete sich Ilse noch innig von ihrem Freund und wir gingen nach Hause. Ich war froh, den Nachmittag hinter mich gebracht zu haben und hörte mir am Weg nach Hause Ilses Schwärmerei an.

Zu Hause angekommen, wartete mein Vater auf mich und ein Donnerwetter brach über mich herein. Er hatte Ilse und mir den Spaziergang nicht abgenommen und war uns unbemerkt gefolgt. Fragen stürzten auf mich ein, wer war der Junge, woher kannte ich ihn und wie lange schon. Meine Beteuerungen, dass ich nur der Anstand-Wau-Wau gewesen war, glaubten mir meinen Eltern vorerst nicht. Aber irgendwann dürfte mein Vater dann doch eingesehen haben, dass ich nur einen Freundschaftsdienst geleistet hatte. Bei Ilse zu Hause gab es eine ähnliche Aussprache. Mit den Spaziergängen in diesem Sommer war es vorbei. Ich weiß auch nicht mehr, ob Ilse ihren Freund noch traf. Mein erstes Rendezvous hatte ich mir allerdings romantischer vorgestellt.

© Gabriela Rodler 2021-10-29

Hashtags