Antwort an einen Freund 1

SilberlosRex

von SilberlosRex

Story

Mein lieber Freund, ich danke dir für deine offenen Worte. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht so genau, was es ist, dass mich quält, oder zumindest nicht, was davon am meisten. Seit einigen Monaten fühle ich mich gefangen, bin stabil genug, um zu überleben, aber noch immer zu instabil, um zu leben. Ich bin an einem Punkt, den ich nie geglaubt hätte erreichen zu können und oft wirkt es, als könne ein einziger falscher Schritt mich von diesem Plateau – auf das ich mit deiner Hilfe über all die Jahre kletterte – wieder zurück in die Tiefen stürzen lassen. Die Wahrheit ist, das nicht einmal ich selbst zu wissen scheine, wer ich bin. Stets unterschätze ich mich und wo ich mental stehe, vermeide und fürchte. Oft ergeben sich Situationen, die mich noch vor einem Jahr von jenem Plateau gefegt hätten wie ein Tornado. Doch sind diese Situationen vorüber, merke ich jedes Mal wieder, wie der Tornado nurmehr ein Sturm ist und ich selbst ohne deine Hilfe wieder zu Sonnenschein und gutem Wetter gelange. So schön dies nun sein mag, so sehr fürchte ich mich davor. Ich habe keine Ahnung, was oder wer ich bin, denn du hast recht: Ich bin ein völlig anderer. Ich kenne mich und meine Stärken immer noch sehr wenig. Stell es dir vor, als hättest du den Führerschein bestanden, doch bist nie in einem Fahrzeug gesessen. Und dann wäre da noch das Problem mit der Wahrheit. Ich bin weiterhin ein Sklave dessen, was andere von mir denken. Und dabei hört es nicht auf, denn selbst wenn sie mich zumindest respektieren würden, so wäre das nur ein temporärer Trost. Zudem tut es natürlich weh, wenn man einfach nicht gesehen wird. Es ist, als hätte man einen Drachen erschlagen, doch niemand weiß von ihm, nicht einmal, dass er je existiert hat. Für all diese Leute – viele von ihnen Familie oder „Freunde“ – ist man kein Krieger, sondern ein Hochstapler. Und wenn so viele Menschen, die einem zumindest theoretisch nahe stehen sollten, deinem Kampf mit dem Drachen keinen Glauben schenken, dann fragt man sich als Mann niedrigen Selbstbewusstseins irgendwann unweigerlich: Habe ich diesen Drachen je erschlagen? Musste ich es überhaupt? Oder war ich gar selbst all die Zeit das Ungeheuer? Ich wünschte so sehr, endlich diese Fesseln abnehmen zu können, denn ich bin es, der sie mir noch immer anlegt. Ich denke, wenn das erst erledigt ist, wären auch viele der anderen Probleme nur noch ein Schatten dessen, was sie jetzt noch zu sein scheinen. Und warum mir die Wahrheit so wichtig ist? Ich weiß es nicht. Über so viele Jahre wollte ich so authentisch und ehrlich sein wie möglich, auch wenn Notlügen um sozialen Situationen zu entgehen noch immer zu meinem Alltag zählen. Und ein Teil von mir scheint zu erwarten, dass mir andere auf derselben Ebene begegnen sollten. Ich versuche, meine Schwächen offen zu kommunizieren und sehe immer wieder, wie andere mit ähnlichen Problemen genau diese dann gegen mich verwenden. Sie lügen sich an und es funktioniert, glauben ich sehe sie nicht. Sie können mir und sich selbst ins Gesicht lügen, vielleicht sind sie dreist, vielleicht glauben sie es tatsächlich. Doch eines weiß ich lieber Freund, ich kann es nicht mehr. Es ist wie du einst sagtest: Siehst du einmal die Wahrheit, gibt es kein Zurück mehr. Die Möglichkeit, mich wie jene Leute selbst anzulügen, bleibt mir bereits lange schon verwehrt. Ich kann all das nicht mehr tun, es gibt keine Lügen mehr, kein Überspielen mehr, keine Naivität. Und ohne Naivität fällt es sehr schwer, zu hoffen…

© SilberlosRex 2024-12-23

Genres
Romane & Erzählungen