Anziehungskraft

Melanie Reiterer

von Melanie Reiterer

Story

“Hey“, grĂĽĂźe ich Chris, als ich ihn in der Bar entdecke, “Wo hast du denn deine Freundin gelassen?” “Ach, die wollte mal wieder nicht mitkommen”, meint er kĂĽhl. Sofort merke ich, dass etwas nicht stimmt. So trĂĽbsinnig habe ich ihn noch nie gesehen. Eigentlich weiĂź ich kaum etwas ĂĽber ihn, wir kennen uns nur von den wöchentlichen Zeltfesten. Hier am Land freundet man sich irgendwann mit den Leuten an, die man ständig auf solchen Veranstaltungen trifft, doch die Informationen ĂĽber die Personen beschränken sich meistens auf den Job, den Beziehungsstatus und den Freundeskreis. Trotzdem wage ich es, hinter die Fassade zu blicken: “Geht es dir gut?” Sein Blick verändert sich, er sieht ĂĽberrascht aus. Er erzählt davon, dass es nicht mehr so gut zwischen den beiden läuft und ihre ständige Eifersucht ihm zu schaffen macht. Es sprudelt nur so aus ihm heraus, scheinbar brauchte er wirklich mal jemanden, bei dem er sich auskotzen kann.

Ich habe seine Freundin Lisa erst vor ein paar Wochen auf der Geburtstagsfeier meiner besten Freundin kennengelernt. Die beiden sind Arbeitskolleginnen, von daher weiĂź ich, dass Lisa nicht nur in ihrer Beziehung etwas anstrengend ist. Nichts desto trotz war sie recht freundlich und deswegen will ich auch gar nichts Negatives ĂĽber sie verbreiten.

Chris hört noch immer nicht auf sich auszulassen, doch ich schenke seinen Worten schon lange keine Aufmerksamkeit mehr. Seine kurzen, dunklen Haare und seine dunkelgrĂĽnen Augen bilden einen groĂźen Kontrast zu seiner blassen Haut. Die geraden, breiten Augenbrauen unterstreichen seine verruchte Erscheinung. Mir ist noch nie aufgefallen, wie gut er eigentlich aussieht. Verdammt, was mache ich hier eigentlich? Der Alkohol, der durch meine Venen flieĂźt, scheint meine Gedanken zu benebeln. Es ist, als wären wir beide von einer mit Strom aufgeladenen Blase umgeben, die uns daran hindert auszubrechen. Er hat aufgehört zu reden, sieht mich nur noch mit durchdringendem Blick an. Die Chemie zwischen uns ist beinahe greifbar. Als wäre ich ein Magnet, werde ich von ihm angezogen, ohne jede Chance, mich dagegen zu sträuben. Sein Gesicht ist meinem ganz nahe, ich kann sein ParfĂĽm riechen – dieser Duft bringt mich völlig um den Verstand. Seine Lippen berĂĽhren meine, ich lasse mich fallen, bin ganz in diesem vollkommenen Moment. Knutschend stehen wir mitten in der Menschenmenge der vollgestopften Bar. “Ich bin eine totale Bitch“, denke ich, doch schlinge meine Arme um Chris‘ Hals. Noch immer ist es mir unmöglich, mich von ihm zu lösen.

“Wir sollten das nicht tun”, entringe ich meiner Kehle. “Du hast recht”, haucht er atemlos, “Ich bringe das in Ordnung.” Mit diesen Worten löst er sich aus meinem Griff und verschwindet.

Ein paar Tage später bekomme ich eine Nachricht von ihm: “Willst du mal was machen?” Sofort logge ich mich auf Facebook ein, gehe auf sein Profil – Beziehungsstatus: Single.

© Melanie Reiterer 2021-08-26

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