von Helena Gruner
Die alten Götter sind nicht tot. Apollo, Gott der Musik, steht in den Tonstudios der Welt, beobachtet aus den Kontrollkabinen die Sänger in den Boxen, führt die Hände der Mixer und wispert Ideen in ihre Ohren. Er schaut über die Schultern der Autoren, die Lieder um Lieder zu Papier bringen und überwirft sie mit Inspiration, wenn sie seinen Respekt erlangt haben. Er summt Melodien, lässt sie um die Ohren der Pianisten tanzen, dessen Finger wie von selbst über die weiß-schwarzen Tasten gleiten, lässt die Snare scheppern und die Basedrum knallen, einen Beat vorgebend, murmelt Akkorde für den Gitarristen und Tabs für den Bassisten. Dann schaut er zu was passiert, ein Lächeln auf den Lippen, wenn seine Jünger seine Ideen ausbauen, Meisterwerke schaffen. Er hat seine Schützlinge, diejenigen, die er besonders mag, denen er einen Platz in der Ewigkeit verspricht, als Meister ihres Faches. Freddy Mercury, Amy Whinehouse, Adele. Er versichert ihnen Ruhm und Reichtümer, überschüttet sie mit Aufmerksamkeit und Erfolg. Auf den Konzerten schwebt er über den Massen, seine Kinder der Kunst beobachtend. Hin und wieder begegnet er seinem Bruder Dionysus, der jedoch meist zu betrunken oder benebelt ist, wahlweise auch beides, um seine Präsenz zu bemerken. Apollo könnte stolzer nicht sein auf das, was die Sterblichen aus der Simplizität der einstigen Lyren-, Flöten- und Trommelmusik geschaffen haben. Aus Lyren wurden Gitarren, Bässe, Geigen, aus Flöten Saxophone, Posaunen, Tubas, aus Trommeln Schlagzeuge, Pauken, Gongs.
Und dennoch, so sehr er die Menschen für ihre Innovationskraft schätzt und seine Zeit damit verbringt, die Musiker und Dichter zu segnen, hat er noch nie seine anderen Aufgaben vernachlässigt.
Apollo, Gott der Seuchen, schickt die Pest und Malaria, Aids und Corona. Er liefert Tausende an Hades, um Gaia, Mutter der Erde zu entlasten, so gibt es zu viele Menschen für sie zu tragen. Als Bringer der Krankheit schwebt er über die Welt, schießt mit Seuchen gespickte Pfeile hinab in die Menschenmassen. Mit Schnabelmaske zieht es ihn durch das dunkle Europa, setzt Ratten in die Straßen, betrachtet die dunklen Flecken der Totgeweihten. Er wandert durch die notdürftigen Krankenhäuser in den sonnengequälten Territorien, mit einem Kittel über seinen Schultern sieht er Kinder, Erwachsene, Senioren sterben. Wortlos begegnet er Hades, wenn er selbst seine Schützlinge durch Krankheit über den Styx schickt, denn Ausnahmen macht er nicht, so weh es ihm auch tut. In Masken und Schutzanzügen sieht er die Atemgeräte, hört das Gehuste und Gekeuche, die Hilflosigkeit der Ärzte, schreitet durch die leeren Straßen, unsichtbar in der Einsamkeit. Und wenn genug Menschen gestorben, genug gelitten haben, schickt Apollo, Gott der Medizin, die Heilung. Er lässt die Menschen sich erholen, Kultur gedeihen, bis die Erde ihn wieder anfleht, ihr zu helfen.
Apollo ist nicht tot, er ist die Inspiration und die Krankheit und die Heilung.
© Helena Gruner 2022-08-25