In ihrem Notizbuch stehen Gedichte. Kleine, selbstgeschriebene Gedichte. Sie ist nicht wirklich stolz darauf, vergleicht sich mit den großen Poeten, mit den großen Poetinnen vergangener Zeiten. Wenn ich so schreiben könnte, wie du zeichnest, dann würde ich mehr Gedichte vorlesen, sagt sie. Wir könnten einen Band herausbringen mit ihren Texten und meinen Skizzen, träumen wir.
Zweimal in der Woche sitze ich im Café und zeichne. Am Wochenende kommt sie zu mir nach Hause und wir reden über Gott und die Welt. Sie hat eine ältere Schwester, die letztes Jahr geheiratet hat, und hatte in der Schule immer gute Noten. Oft war sie allein, weil sie zu schüchtern war mit den anderen zu sprechen. Mich hat sie angesprochen. Das ist etwas anderes, sagt sie. Sie lebt in einer neuen Stadt, sie ist ein anderer Mensch, sagt sie. Zumindest ein bisschen.
Irgendwann möchte sie die Polarlichter sehen und eigenes Buch schreiben. Ihre Playlist ist lang. The Beatles. The Beach Boys. The Monkees. Sie trinkt gerne Tee aus den Tassen ihrer Oma, zumindest sehen die Teile so aus, und strickt fürchterliche Socken. Sie wollte schon immer Stricken lernen. Ein Paar schenkt sie mir und wie sie mich dabei ansieht, so stolz und erwartungsvoll, kann ich nicht anders als mich darüber zu freuen. Als sie weg ist, stopfe ich das Paar in die Schublade nach ganz hinten. So schnell hole ich die nicht wieder hervor.
Es regnet draußen viel, aber wir hatten auch schon ein paar warme Tage. Wenn es Mai wird, wollen wir ein Picknick machen. Mia kocht unglaublich gerne, aber nicht sehr gut. Zusammen folgen wir den Rezepten ihrer Oma, die sie so liebt. Manchmal koche ich für sie. Die Gerichte liebt sie fast so sehr wie die ihrer Oma.
Ein paar Sonnenstrahlen brechen durch die Wolken und wir setzen uns nach draußen auf eine Bank. Mia kramt ihr rosa Notizbuch hervor und liest laut. Ich höre zu. Die Worte stolpern durcheinander. Die Texte sprühen vor Lebendigkeit. Ich verstehe, was sie sagen will. Wenn sie liest, schwingt in ihrer Stimme eine helle Aufregung. Ich höre ihre Stimme gerne.
Ich zeichne. Mia schaut zu. Nach einer Weile legt sie vorsichtig ihren Kopf an meine Schulter und schließt ihre Augen. Ich blicke zu ihr. Sie ist mir ganz nah. Ich kann ihre Sommersprossen zählen. Vorsichtig streiche ich ihr eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie lächelt und öffnet die Augen. Ihre dunklen Wimpern blinzeln mich an. Ihre braunen Augen suchen meine. „Lass uns im Sommer mit den Fahrrädern zum See fahren“, sagt sie. Ich nicke und sie schließt ihre Augen erneut. Zusammen versinken wir in Schweigen.
© Johanna Josepha Wagner 2022-08-11