von Sandro Kaspar
Chlorophyll, cochon, rêve de … was hat das mit dem Leben in Paris der 50er- und 60er Jahren zu tun?
Es war die Zeit, als es noch nicht das Centre Pompidou gab oder die Glaspyramide beim Louvre. Es war die Zeit der Chansonnier wie Gilbert Bécaud oder Charles Aznavour sowie die der Jazzmusiker Sidney Bechet oder Eroll Gardner, die in rauchgeschwängerten Schuppen der Rue de la Huchette und anderswo auftraten. Auf den Strassen standen runde, graue, halboffene Pissoires. Nichts für Ästheten, aber nützlich. Tempi passati.
Nach der Arbeit hetzte ich jeweils die schmalen Trottoirs entlang auf dem direkten Weg zum Französischkurs – ein täglicher Sprint. Für ein Nachtessen blieb keine Zeit, aber ein Zwischenstopp bei der kleinen Bäckerei musste sein. Dort wartete mein tägliches ‚Pain au raisin‘ auf mich – eine sündhaft leckere Hefeschnecke mit Sultaninen – die ich sofort im Eilschritt verschlang, bis nach etlichen Wochen die Haare auszufallen begannen. Aber trotz diesem und jenem Ungemach genossen wir Jungen die Freiheit in dieser Stadt. Hormongesteuert, hörten wir von einem sagenumwobenen ‚Cinéma cochon‘ – einem Kino der besonderen Art, das angeblich existierte, aber sich uns gegenüber verhielt wie Atlantis: Viel besprochen, nie gefunden.
Wollte man in Paris günstig essen führte kein Weg an den kleinen, bescheidenen Lokalen im 5. und 6. Arrondissement vorbei. Ich kehrte dort ab und zu ein – schlicht und ergreifend, weil mein Geldbeutel es so wollte. Eines dieser Lokale stach besonders hervor. Kaum hatte ich dessen Türschwelle überschritten, wusste ich: Hier spielte Etikette höchstens eine Nebenrolle. Der Boden war mit Sägemehl bestreut. Das Personal zeigte eine beeindruckende Effizienz: Mit einem gekonnten Wisch landeten Krümel, Zigarettenasche und andere kleine kulinarische Überbleibsel des Vorgängers direkt vom Tisch auf dem Boden. Eine praktische Putzlösung, die sicher nicht für Freunde der klinischen Reinheit gedacht war. Die Kellnerin, eine resolute Dame mit einer Stimme, die locker eine Trompete hätte übertönen können, rauschte an meinen Tisch. «Oui?», war ihre Frage zu meinem Essenswunsch. «Ein grüner Salat, bitte». Ohne eine Sekunde zu zögern, drehte sie sich zur Küche hin und brüllte über alle Tische hinweg: «Un Chlorophyll!» Ich stutzte. Ja, natürlich, ein grüner Salat. Chlorophyll! Nachdem ich mein Grünes gegessen hatte bestellte ich die Hauptspeise, ein paniertes Schnitzel. «Un cochon!!» (ein Schwein), schrie die Kellnerin mit der Kraft einer Operndiva nach hinten. Ich schaute mich vorsichtig um. Die Gäste hoben nicht einmal den Kopf. Für sie war das offenbar ein ganz normaler Vorgang. Zum Abschluss bestellte ich eine Banane. Ich ahnte, dass das nicht einfach mit einem lapidaren «une Banane» quittiert werden würde und war gespannt wie eine Feder, was nun kommen würde. Da erschütterte die Stimme der Kellnerin die Grundmauern des Lokals: «Un rêve de jeune fille!!!» (Bitte im Wörterbuch nachschauen).
Diese Art zu sprechen nennt man Argot, unterdessen wohl im Pariser Studentenviertel eine ausgestorbene Ausdrucksweise. Sie war direkt, humorvoll, frivol, und doch mit einer Prise Poesie.
© Sandro Kaspar 2025-02-15