Arm und Reich in Galizien

von Stefan Hampl

Story

Bürgermeister Wynnyzkyj reißt mich jäh aus den Gedanken. „Anhalten“, ruft er. Wir können es noch bei Pan Iwán versuchen, der in einem der Häuser an der einstigen Koloniestraße von Dobrjanytschi wohnt. Der Mann ist zwar nicht mehr besonders gut bei Gesundheit, aber einer der Dorfältesten. Vielleicht kann er sich noch an Wilhelm Reich erinnern? Wir lassen das Auto am Straßenrand stehen und gehen den kurzen Schotterweg hinunter. Über der Eingangstüre fällt mir eine Blechplakette auf, deren mehrfach überpinselte Prägung trotz großer Bemühung nicht zu entziffern ist. Im Zweiten Weltkrieg war dies angeblich das Haus eines deutschen Kommandanten. Pan Iwán sitzt in der vollgeräumten Küche einsam auf einem Holzstuhl. „Wissen Sie, wo Wilhelm Reich gewohnt hat?“, fragt der Bürgermeister. Der Alte Mann erhebt sich schwerfällig, antwortet zu meiner Verblüffung aber wie aus der Pistole geschossen: „Jawohl, unten beim Dorfbrunnen!“ – „Und diesen Brunnen gibt es noch heute!“ Der Bürgermeister kennt zwar den Brunnen, glaubt aber, nicht richtig verstanden zu haben. „Jawohl, dort hat er gelebt!“, bestätigt Pan Iwán nochmalig. Jetzt sind wir gänzlich aufgestachelt. Der Bürgermeister scheucht mich ins Freie, damit der alte Mann und die sensationelle Nachricht ans Tageslicht kommen. In diesem ukrainischen Dorf also wurde 1897 einer der begnadetsten und zugleich umstrittensten Psychoanalytiker geboren! Pan Iwán hält unter dem unheimlichen Türschild inne und gestikuliert mit dem Krückstock: „Verzeihen Sie, meine Beine. Wurde 1930 geboren, hab‘ schon ein wenig gelebt. An die Deutschen erinnere ich mich alle! Mit ihnen bin ich aufgewachsen!“ Schleichende Skepsis macht sich breit: „Wenn Sie 1930 geboren sind, woran erinnern Sie sich dann? Was für ein Mensch war Wilhelm Reich?“ Pan Iwán starrt schweratmig zu Boden. Sein Blick beginnt zu wandern, er ringt nach Luft und Worten. „Das … weiß ich schon … nicht mehr …“ Unter Schluchzen gibt er preis: „Ich bin schon lange … lange, lange ist es her … vor langer Zeit bin ich mit diesen Deutschen hier aufgewachsen!“ Tränen drängen aus den müden Augen. Er zückt sein Taschentuch. Doch der Versuch misslingt, sich die nassen Perlen aus dem Gesicht zu wischen. Nun führt die Erinnerung seine Hand wie einen Zeichenstock. „Sie haben mir zu essen gegeben! Ich war erst zwei Monate alt, als mein Vater starb. Wir waren so unfassbar arm, dass ich fast verhungert wäre! Die Deutschen haben mich aufgefangen. Heinrich hieß einer. Ich stapfte zu dessen Haus und er befahl seiner Frau: „Lisa, gib dem Jungen zu essen!“ Unruhig gleiten die feinen Karos des Schnupftuchs über Iwáns Miene, bis er sich wieder fasst: „Die Deutschen waren anständige Leute.“ Sie haben mir als Kind das Leben gerettet.“ „Kann es sein, dass Sie diesen Heinrich vielleicht mit Wilhelm Reich verwechseln?“ „Ach wissen Sie“, sagt Iwán, „was macht das schon für einen Unterschied? Die Menschen wechseln eben. Der eine heiratet, der andere stirbt.“

© Stefan Hampl 2021-08-03

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