von Barbara Waldmann
Monika fand, dass der Sommer das beste Tönungsprogramm für ihre Haare war. Während sie ab November ergrauten, geschah ab Juni immer noch das Mirakel, dass einige Strähnen blonder wurden. Zudem verfügte Monika über einen außerordentlich freundlichen Badezimmer-Spiegel. Er hatte ihr die Wohnung bei der ersten Besichtigung sofort sympathisch gemacht.
Ein Spiegel, in dem sie sich recht schlank wiederfand. DarĂĽber eine Lampe mit sanftem Licht, das die Haut feiner erscheinen lieĂź, als sie war. Und die Haare changierten in ihrem Schein sehr nett zwischen aschblond, brĂĽnett und grau.
Die Spiegel in den Badezimmern der Hotels, die Monika während ihrer Dienstreisen beherbergten, erzählten oft eine andere Geschichte. Sie war gut darin, selbige zu verdrängen, und tauchte zuhause umso dankbarer in den freundlichen Widerschein ein.
Aber jetzt saß sie da, in dieser Videokonferenz. Natürlich war Monika wie immer in den Einstellungen auf “Ansicht retuschieren” gegangen und hatte den kleinen blauen Maßhebel mit der Maus bis zum Anschlag nach rechts gezogen. Nur das Licht bekam sie nicht hin. Sie ging auf “An hellen Hintergrund anpassen”, versuchte es auch mit “An dunklen Hintergrund anpassen”, doch es wurde nicht besser.
Das herbstliche Morgenlicht fiel klar und scharf auf ihren Kopf. Da war nichts mehr blond, auch nicht brünett, das war eine einzige aschgraue Fläche.
Während die Kollegen langsam eintrudelten, Kaffeetassen in die Kameras hielten und allen einen schönen guten Morgen wĂĽnschten, konnte sich Monika nicht von ihrer Selbstansicht losreiĂźen. Immer wieder starrte sie sich an. “Ich schaue alt aus. Definitiv alt”, dachte sie unzufrieden. Sie klickte auf die drei Punkte rechts oben in ihrem Videokonferenz-Bild und drĂĽckte unwirsch auf “Selbstansicht ausblenden”. Auf das Meeting konnte sie sich trotzdem nicht konzentrieren. Die Chefin stellte die Eckpunkte der neuen Home-Office-Regelung vor. Die Worte rauschten an Monikas Ohren vorbei, während sich ihre Augen an den Haartönen der anderen Teilnehmer festsaugten. Die kurzen Haare der Chefin wirkten ähnlich aschig wie die ihren. Daneben wuschelten sich die lockigen schwarzen Haare der Kollegin aus der TĂĽrkei in die Kamera. Die hippe Pressefrau war offensichtlich vor kurzem beim Friseur gewesen, in coolem WeiĂźblond zackten sich die gegelten Strähnen in alle Richtungen. Silbergrau der wĂĽrdige Schopf der Buchhalterin, die Monika vor kurzem entgegen gedonnert hatte, dass sie nie im Leben ihre Haare wĂĽrde färben lassen. Die Männerköpfe bewegten sich braun, brĂĽnett und rotblond auf ihrem Bildschirm – sie wirkten so gleichmĂĽtig, irgendwie beruhigend.
“Dann wünsche ich uns allen noch einen produktiven Arbeitstag”, sagte die Chefin und beendete die Besprechung. Monika atmete auf und ging ins Badezimmer. Asch-blond-grau schimmerte ihr Haar im milden Spiegellicht. Sie lächelte sich aufmunternd zu. Noch sechs Monate bis zum nächsten Sommer.
© Barbara Waldmann 2022-11-18