von lese_zeichen
Meine frühkindliche Prägung ist eindeutig katholisch. Die Oma mütterlicherseits ging, solange sie irgendwie konnte, in die Kirche. Tag für Tag, egal, welches Wetter, egal wie ihr Gesundheitszustand war. Mit ihren 92 Jahren betet sie noch heute jeden Morgen. Sie sagt, für ihre Familie und um Gott gnädig zu stimmen. Ich allerdings glaube, dass das ganze viel eigennütziger ist: Sie will dem Fegefeuer entkommen. Meine Oma meinte nämlich mal vor Jahren, dass ihr das sicher sei. Ich hab keine Ahnung, warum. Na ja, eine kleine Ahnung vielleicht….
Jedenfalls traute sich meine Mutter als erwachsene Frau und ein bisschen emanzipierter als meine Oma, manch kirchliche Merkwürdigkeit infrage zu stellen. Dass der Herr Pfarrer automatisch Ansehen genoss und die Frauen der Gemeinde außer Kuchen backen und Kirche putzen keinerlei Verantwortung übertragen wurde, passte ihr nicht. Später hat sie sich getraut, aus ihrem Bibelkreis auszusteigen, das kam in dem kleinen Ort gar nicht gut an. Im Nachhinein bewundere ich sie dafür. Vielleicht hat sie damit den Samen in mir gelegt, Dinge grundsätzlich zu hinterfragen und Systemen nicht automatisch zu vertrauen.
Kirchliche Rituale und Traditionen wurden in unserer Familie trotzdem hoch gehalten, als Kind habe ich das geliebt. Ich glaube, das hat meinem Leben eine Art von Rhythmus und auch ein bisschen Halt gegeben. So wurde jährlich Asche aufs Haupt gestreut, Palmbuschen gebunden, Osternesterl versteckt und natürlich am Karfreitag kein Fleisch gegessen. Wobei das mit dem Fleisch hab ich nie verstanden, weil wir sowieso nur ein Mal unter der Woche und dann wieder am Sonntag Fleisch gegessen haben.
Als 15/16jährige flackerten immer wieder mal Revoluzzer-Tendenzen in mir auf, ich hatte aber keinen Plan, wie oder wo ich die zum Ausdruck bringen konnte. Am Karfreitag 1991 aber war es so weit, ich wusste genau was zu tun war: Im örtlichen Sparmarkt bestellte ich mir erst selbst- dann schuldbewusst ein Leberkässemmerl. Die Dame von der Feinkost vulgo Alle-Menschen-des-Ortes-Kennerin vulgo Mutter meiner Klassenkollegin schaute mich mit großen, vorwurfsvollen Augen an und schnitt demonstrativ langsam den Leberkäs herunter, gab es in das Semmerl und packte es sehr, sehr sorgfältig ein. Ich empfand Scham und Stolz zugleich.
Bevor ich das Semmerl verspeiste, überlegte ich ernsthaft, ob ich es nicht doch lieber entsorgen sollte, schließlich würde mir im schlimmsten Fall Gottes Zorn blühen. Ein bisschen Schiss hatte ich schon. Letztendlich zog ich es durch, aß mein Leberkässemmerl sogar noch mit Genuss und war stolz auf mich und meinen wahnsinnigen Mut. Innerlich klopfte ich mir auf die Schultern. Ich glaube, falls es einen Gott gibt, hat er damals über mich geschmunzelt. Und falls es das jüngste Gericht tatsächlich gibt, wird dieses Leberkässemmerl nicht das Zünglein an der Waage sein. Hoffe ich mal :-)
© lese_zeichen 2021-02-17