von Silvia Peiker
Zwei Frauen, die eine Leidenschaft miteinander teilen, obwohl sie nicht zur selben Zeit und im selben Land leben. Die eine, Sarah, ist Engländerin und schreibt an ihrer Dissertation. Die andere, Viktorine, ist Krankenschwester in der Kinderklinik des AKH.
Gemeinsam ist ihnen ihr Interesse für den Arzt Asperger, der sich intensiv mit seiner Forschung an psychopathischen Autisten beschäftigt. Als Leiter der heilpädagogischen Kinderklinik am AKH in Wien entdeckt er in den 1930er Jahren als erster die Inselbegabungen der von den anderen Ärzten als nicht therapierbar angesehenen jungen Patienten. Unterstützung findet der überzeugte Katholik bei Viktorine, die den zumeist als bildungsunfähig eingestuften Kindern mit Verständnis und Empathie begegnet. Viktorine hegt jedoch mehr als Bewunderung für Asperger, der verheiratet ist. Erst als er Kinder, die gemäß der Nazi-Doktrin keinen Wert für die Gesellschaft besitzen, in die Kinderklinik am berüchtigten Spiegelgrund überweist, beginnt ihre bislang unvoreingenommene Schwärmerei für ihren Vorgesetzten zu bröckeln.
Als die Britin Sarah 1986 im Auftrag ihrer Dozentin Lorna Wing an der Wiener Universität und in den Archiven der Kliniken Nachforschungen zu Aspergers Arbeit anstellt, wird sie mit dessen brauner Vergangenheit konfrontiert. Geschockt wühlt sie sich durch akribische Aufzeichnungen von Gräueltaten des Naziregimes, die an Kindern begangen wurden und hört zum ersten Mal von dessen Euthanasieprogramm. Staunend fiebert sie beim Lesen von Viktorines Tagebuch mit der beherzten Schwester mit, wenn diese vom Autisten Erich berichtet, der ein hochbegabter Mathematiker ist, der imstande ist, ohne Vorbildung schwierigste Gleichungen zu lösen. Wir erfahren, wie es sich anfühlt, die Welt durch Erichs Augen zu sehen, spüren den Schmerz, den Licht, Lärm oder Menschengruppen in seinem Kopf auslösen. Doch als Asperger an die Front eingezogen wird, verliert sich Erichs Spur in der Fürsorgeanstalt Am Spiegelgrund und Sarah muss das Schlimmste befürchten.
Doch es ist nichts so wie es scheint. Selbst die Autorin Laura Baldini schreibt unter einem Pseudonym, heißt in Wirklichkeit Beate Maly, die bekannt dafür ist, historische Krimis zu veröffentlichen. Maly, die selbst in der Frühförderung mit Kindern arbeitet, bei denen eine sogenannte Autismus Spektrum Störung diagnostiziert wurde, war es ursprünglich ein Anliegen, über die Heilpädagogische Abteilung in Wien in der Zwischenkriegszeit zu recherchieren. Doch je tiefer sie sich in diese Materie verstrickte, desto mehr begann sie die Rolle des Entdeckers des Asperger Syndroms und der in diesen Kliniken tätigen Menschen, die ihre Schützlinge weder fürsorglich noch menschenwürdig behandelt hatten, zu hinterfragen. So entstand ein teilweise fiktionaler Roman, der auf historischen Fakten beruht, die erschüttern, zu Tränen rühren und einen wertvollen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten.
Dank an Unsplash fürs Foto
© Silvia Peiker 2025-01-27