von Silvia Peiker
„Ich musste den mit der Maschine geschriebenen Brief gleich zweimal lesen. Das zweite Mal habe ich ihn meiner Mutter laut vorgelesen. Die war mit ihren Nerven völlig am Ende, denn nachdem mein Vater einberufen worden war, sollte nun auch ich sie verlassen. Heute weiß ich, dass sie krank war. Sie litt unter einer Phobie. Sie hatte vor allem, was ihr nicht vertraut war, Angst. Als junges Mädchen hab ich ihre Furcht nicht verstanden, für mich war sie einfach nur kapriziös und anstrengend. Mein Vater hatte sich mit ihrer Eigenart, so nannte er ihre Angstzustände, abgefunden. Damals ging man nicht zum Nervenarzt, um nicht als verrückt abgestempelt zu werden.“
Helenes Erzählung wurde durch das Öffnen der Tür unterbrochen. Eine junge Physiotherapeutin rollte ein uns unbekanntes Gerät ins Zimmer. Elektromyostimulation kann nach Operationen am Bewegungsapparat helfen, die Muskelfunktionen zu verbessern. Nun sollte die 80-Jährige lernen, wie sie die Elektroden auflegen sollte, damit sich die Muskeln rund um ihr Knie wieder aufbauten, um ein sicheres Gehen zu ermöglichen. Wenn sie mit dieser Technik zurechtkam, durfte sie sich den Apparat sogar mit nach Hause nehmen. Mit Freude beobachtete ich, wie interessiert meine Bettnachbarin den Anweisungen der Therapeutin folgte. Die ältere Frau lebte ganz allein in ihrer Wohnung, es gab keine anderen Verwandten mehr, die ihr hilfreich zur Seite hätten stehen können. Befreundet war sie mit einem Ehepaar, das gemäß Helenes Schilderungen über die nicht heilbare Narkolepsie, bei der die Betroffenen willkürlich ohne Grund plötzlich einschlafen, litt. Von den beiden konnte sie sich auch keine großartige Unterstützung erwarten.
Am Nachmittag, als wieder Ruhe in unser Krankenzimmer eingekehrt war, verriet mir Helene nun endlich das Ziel ihrer Reise: „Sie können sich bestimmt vorstellen, wie entsetzt meine Mutter war, dass ich Österreich, das es jetzt eigentlich gar nicht mehr gab, sie hatten es in Ostmark umgetauft, den Rücken kehren musste und nach Sachsen geschickt wurde. Für sie, der ich doch so viele Tätigkeiten außerhalb des Hauses abnahm, stellte das eine Weltreise dar. Sie musste nun ohne Vater und mich auskommen. Zum Glück lebte meine Tante im selben Haus, sie würde sich um ihre seltsame Schwägerin kümmern.“
„Warum wurden Sie eigentlich nach Sachsen geschickt?“, fragte ich verwundert.
„Ich sollte dort in einer Fabrik meinen seit Kriegsbeginn auf ein Jahr verlängerten, verpflichtenden Reichsarbeitsdienst ableisten. Irgendwie freute ich mich auf die Zugreise, endlich konnte ich die Enge unserer kleinen Wohnung verlassen, dachte ich zu diesem Zeitpunkt.“
© Silvia Peiker 2024-02-15