Aufbruch

Carmen Matheis

von Carmen Matheis

Story
2021

Der Entschluss war ganz allmählich gereift. Da ich im Jahr meines 30. Geburtstags auf dem Jakobsweg in Spanien war, wollte ich zum 40. wieder pilgern. Aber diesmal in Deutschland, 2021 stand mir nicht der Sinn nach langen Reisen. Nach ausgiebiger Überlegung fiel die Entscheidung für den ökumenischen Pilgerweg. Und eins gleich vorweg: Ich habe es nicht bereut. Bevor es losgehen konnte, waren einige wichtige Entscheidungen zu treffen. Vor allem: was brauche ich bzw. was kann ich tragen? Manches hatte ich noch, anderes wurde neu angeschafft. Auf Stöcke habe ich verzichtet – eines der wenigen Dinge, die ich unterwegs bereut habe. Aber dazu später mehr.

Nach dem ersten Probepacken die Ernüchterung. Der Rucksack ist mit fast sieben Kilo ohne Proviant und Wasser viel zu schwer. Also alles ausgebreitet: Was kann weg? Fotoapparat, ein kleines Handtuch extra fürs Gesicht, ein zweites Paar Schuhe für in der Herberge bleiben zu Hause. Kleidung wird aufs Nötigste reduziert mit der vagen Idee sie täglich auszuwaschen. Nächstes packen und wiegen: 5,5 kg. Okay, das kann ich tragen – denke ich zumindest. Das Training hat parallel angefangen. Rund ums Dorf, Abstecher in den Bienwald und den Pfälzer Wald, auch mal ein paar Hügel mitnehmen. Es wandert sich auch bei uns sehr schön, aber ich habe mir den Pilgerweg in den Kopf gesetzt. Ich führe Buch über gelaufene Entfernungen. Die Detailplanung setzt ein. Wie viele Kilometer kann ich am Tag schaffen, wenn ich wirklich jeden Tag laufen will und keinen Ruhetag einplane? Der Pilgerführer ist angekommen. Die handgemalten Karten machen Lust aufs Loslaufen, aber sind sie genau genug? Was, wenn ich mich verirre? Leider habe ich einen miserablen Orientierungssinn und sehe mich schon ziellos durch Sachsen irren. Also kommt noch eine Wanderkarte dazu – eine gute Entscheidung wie sich herausstellen wird, da die Karte mit genauen Entfernungsangaben versehen ist, was die Planung enorm erleichtert. Fest steht nur das Ziel: Ich will die insgesamt 460 km lange Strecke nur zur Hälfte laufen, also von Görlitz bis Leipzig, das ungefähr in der Mitte liegt. Und ich möchte gern am 14. Oktober, meinem 40. Geburtstag, an der Nikolaikirche ankommen. Wann muss ich also loslaufen? Ich rechne von Leipzig rückwärts. Die Etappen werden auch durch die Pilgerherbergen am Weg bestimmt, ich möchte so weit wie möglich dort übernachten und die Hotels sparen. Kann ich mir 25 km am Tag zutrauen? Schließlich entscheide ich mich dafür am 3. Oktober in Görlitz zu starten. Die Zugfahrkarte wird gekauft, die Nervosität, aber auch die Vorfreude steigern sich. Meine Eltern beschließen, zu meinem Geburtstag ebenfalls nach Leipzig zu kommen und dann noch ein paar Tage mit mir dort zu verbringen. Das freut mich natürlich sehr, dass jemand mich in Empfang nimmt.

Am 2. Oktober sitze ich im Zug, neben mir der schwere Rucksack, im Kopf viele Gedanken zwischen Vorfreude und „Was mache ich hier eigentlich? Bin ich verrückt?“ Aber die Freude überwiegt. Ich bin mir sicher, dass ich schaffen kann was ich mir vorgenommen habe.


© Carmen Matheis 2024-05-30

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Reise
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Inspirierend, Entspannend
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