Aufreizende Defizite

Jamal Tuschick

von Jamal Tuschick

Story

Paare, die gemeinsam durchgehalten haben, erleben sich im Glanz ihrer goldenen Jahre. Man muss Jahrzehnte fĂŒreinander VerstĂ€ndnis aufbringen, um dahin zu gelangen. Plötzlich hĂ€ngen an allen Routinen GlĂŒcksglöckchen. Man wird zu zweit so weich wie ein WollknĂ€uel. Andere Rekordpaare schließen auf, um im Dutzend billiger Feste der ultimativen Vertrautheit zu feiern. 

Wann war unsere beste Zeit? Nele stellt die Frage im Merkantil. Wir sehen einander an, Paare am Ende ihrer beruflichen Laufbahnen und am Anfang eines ĂŒberraschend weitreichenden Einvernehmens. Wir schĂ€tzen uns glĂŒcklich. Ich rede von Leuten ohne nennenswerte Krankengeschichten. Die Giganten unserer Generation sind lĂ€ngst gefĂ€llt. Was durchkommt und sich hĂ€lt, ist nicht das Großartige. Mit Neles Mann habe ich einen wöchentlichen Lauftermin. Kemal hat erst mit fĂŒnfzig angefangen, Sport zu treiben. Er wirkt so wenig verschlissen wie ein DreißigjĂ€hriger. Sein Programm zeigt mir, was es heißt, in den prĂ€genden Jahren nicht im Takt der pickligen Horde athletisch sozialisiert worden zu sein.

Manche Defizite wirken aufreizender als andere. Jedes Paar umschifft LiebeslĂŒcken und Ă€sthetische GefĂ€hrdungen. Neben Nele breitet sich Ayat aus. Der selbststĂ€ndige Optiker lebt seit dreißig Jahren in GrĂŒnhausen. So lange ist er mit Vera verheiratet. Seine Vorfahren hielten an der iranisch-irakischen Grenze Jahrhunderte eine Gemeinde in Gang. Sie begriffen sich als Erben des Hauses Omri und lebten ihren Glauben kryptisch. Ihnen fehlte der Anschluss an eine grĂ¶ĂŸere Ordnung. Manche glaubten, seit Alexander dem Großen Griechen zu sein. Christliche AramĂ€er, die vor hundert Jahren aus dem syrischen Maalula in die TĂŒrkei auswanderten, werden heute noch von TĂŒrken als Syrer wahrgenommen. Der jĂŒdische Kurde Ayat gilt in GrĂŒnhausen als muslimischer Araber. Er spielt Tennis mit nie nachlassendem Ehrgeiz. In den Hochzeiten von Boris Becker kaufte er sich einen Platz an der Sonne, um hemmungslos Fan sein zu können. Er wurde auch Apple-Aficionado und beteiligt sich noch immer am Wettlauf um jeden medial hochgejazzten Schnickschnack. Das Gesicht seines Idols verrĂ€t, dass es gegen Beckers Schmerzen kein Mittel gibt, das ihn nicht zum Junkie macht. Ein gestĂŒrzter Gott kann sich auf nichts berufen.

Beckers frĂŒhe Siege in Wimbledon scheinen jetzt viel mehr die Siege seines Bewunderers Ayat zu sein, der von Verletzungen unbehelligt geblieben ist. Ayats neurotische Fitness provoziert die trĂ€ge Mehrheit am Tisch. Er ist der unerreichte Maßstab, vor dem ich kapituliere. Drehe ich mit Kemal eine Runde auf dem antiken Trimm-Parcours im BĂŒdinger Forst, betrĂŒge ich mich um die Einsicht meines Niedergangs. Ich kehre die Einsicht unter den Teppich eines billigen Erfolgserlebnisses. FreimĂŒtig bekenne ich meine SchwĂ€chen, mit der Erwartung, von allen freigesprochen zu werden. Die HĂ€lfte meines Freundeskreises macht es so wie ich und kritisiert sich vorauseilend. Die andere HĂ€lfte hĂ€lt sich bedeckt und gibt nie mehr zu als nötig. Der Trotz imponiert mir bei meiner Frau. Lore lĂ€sst sich nur von Niederlagen ĂŒberzeugen, die ihr das Kreuz brechen. WĂ€re Vera so, könnte sie mit Ayat nicht leben.

© Jamal Tuschick 2024-01-12

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Hoffnungsvoll