von Kiana Haas
„Ich brauche deine Hilfe nicht.“
Mit voller Wucht schlage ich seine Hand weg, mit der er meine Haare halten will. Doch als mich der nächste Würgekrampf schüttelt, kann ich mich nicht länger seiner Fürsorge erwehren. Meine Hände brauche ich beide, um mich an der Toilettenschüssel festzuklammern. Vor meinen Augen dreht sich alles, wird abwechselnd schwarz und dann doch wieder kunterbunt mit wirren Farben, sodass sich mein Magen stärker zusammenzieht.
Meine Hände zittern, die Haare kleben mir in nassen Strähnen in der Stirn oder im Nacken. Als endlich auch das letzte bisschen Mageninhalt seinen Weg in den Abfluss gefunden hat, riskiere ich einen Blick über die Schulter.
Sogleich knipst er sein Lächeln an, dessen Charme alle anderen Mädchen auf der Stelle erliegen würden. Ich selbst muss mir ebenfalls eingestehen, dass mich sein breites Grinsen, die Grübchen in seinen Wangen und das Strahlen in seinen grau-blauen Augen alles andere als kalt lassen.
Doch ich erinnere nur zu gut, dass seine Hände dazu in der Lage waren, ein Herz spielerisch zu zerbrechen. Mein Herz, um genau zu sein.
Jeder Schnitt, jeder Kratzer, jede Beule – jede verdammte Verletzung, dieser ganze Schmerz, den ich mir zugefügt habe – sie erinnern mich daran. Jede Wunde war ein Hilferuf. Genährt von süßem Blut und ekelhaftem Zerstörungswahn. Und niemand hat meine Schreie je gehört.
Warum also ist es ausgerechnet er, der nun hinter mir steht, mich so unverschämt schön anlächelt und tut, als habe er mich nie zerstört?
„Vielleicht brauchst du genau meine Hilfe.“ Er legt den Kopf schief, ich tue es ihm gleich.
In diesem Augenblick sehe ich alles in ihm, was ich schon einmal in ihm gesehen habe. Lange bevor er mein Herz wie einen trockenen Keks mit zwei Fingern zerbrach.
„Brauche ich die wirklich?“
Er zuckt mit den Achseln. „Scheint so, als müsse dringend jemand auf dich aufpassen, damit du nicht noch einmal zu viel Alkohol trinkst.“
Ich mache eine wegwerfende Handbewegung, wische mir mit dem Ärmel den sauren Speichel aus den Mundwinkeln und halte ihm dann auffordernd meine Hand hin.
„Wenn du unbedingt der Held der Geschichte sein willst, dann hilf mir doch auf.“ Ich recke das Kinn und ignoriere das Zittern in meiner Unterlippe. Du musst stark sein, ermahne ich mich zur Ruhe.
Meine Hand bleibt in der Luft hängen, als er den Kopf amüsiert schüttelt, mir den Rücken zuwendet und das Bad verlässt. Mich allein lässt. Mit gebrochenem Herzen – schon wieder.
Alles, was ich in den letzten Sekunden in ihm gesehen habe, zerfällt zu Staub vor meinen Füßen. Die Fliesen unter mir sind so kalt – ich kann nicht einmal sagen, ob er wirklich bei mir gewesen ist. Oder ob ich es mir nur gewünscht habe.
© Kiana Haas 2022-09-04