von Simona_Hartmann
Barbusig, mit dem Handtuch über der Schulter, in der Kabine warten. Dann auf den Tisch des Bestrahlungsgeräts legen, das Atemgerät wird eingerichtet, das Mundstück vom Schlauch in den Mund, ab jetzt nicht mehr bewegen. Gar nicht! Über einen Spiegel sehe ich die Projektion meiner Atemkurve. Wenn die Kurve über der grünen Linie ist, dann Luft anhalten. Wenn die Linie auf der anderen Seite angekommen ist, weiteratmen. Nicht bewegen. Kopf nicht, Arme nicht, Beine nicht. Alles nicht. Stillhalten. Einige Male in Position eins, dann fährt das riesige Gerät um mich herum in einen anderen Winkel, dann einige Atemzüge in Position zwei, usw. Insgesamt 20 Minuten. Dann wieder barbusig in die Kabine zurück. Wirklich maximal sexy. Betreut werde ich bei der Behandlung von einem Physiker, der dieses Wahnsinnsgerät versteht und bedient. Ein junger, unsicher wirkender Mann. Tags zuvor hatte ich ihm gesagt, ich hätte noch eine Frage zu den Terminen. Er sagte, dazu könne er mir auch nichts sagen, er sei ja nur unter der Woche hier und wohne ansonsten in Itzehoe, wo er am Wochenende ist. Aha. Ich vermute, dass sicherlich viele seiner Kollegen in der Situation waren, unter der Woche auf der Arbeitsstelle zu sein und am Wochenende zu Hause. Der Zusammenhang mit meiner Terminfrage bleibt offen. Heute also die vierte von 28 Bestrahlungen. Der Ablauf wird vertrauter. Barbusig, Handtuch, auf den kalten Metalltisch, Mundstück, atmen, Atemkurve fährt hoch, krabbelt über den Bildschirm, Atem anhalten, weiteratmen, neuer Winkel, nach mehreren Einstellungen Handtuch nehmen. Mit meiner Wahrnehmung ganz nach innen gerichtet, trotte ich zurück in die Kabine. Doch dort komme ich nicht alleine an. Dicht hinter mir folgt der junge Physiker, der nun neben mir in der Kabine steht. Ich trage eine Jeans und über einer Schulter hängt das Handtuch. Frau sieht ja schon ohne Brustoperation in dem romantischen Licht von Umkleidekabinen nicht sehr wohl aus. Nach sechs Monaten Chemo, immer noch haarlos und mit der Narbe über der Brust noch weniger. In dem Zustand bin ich lieber alleine mit mir als mit einem mir unbekannten Physiker. Er hat einen Fotoapparat in der Hand. Ich gucke ihn fragend an. „Ja, also … äh … ähm, ich mache ein Foto.“ Sein Blick schweift unsicher herum. „Wir, also, dokumentieren immer Vorher und Nachher. Äh, wegen Hautveränderungen.“ Er fotografiert meinen nackten Oberkörper.
Ich könnte nicht sagen, wem von uns beiden die Situation unangenehmer war. Es blieb ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Ob er damit gerechnet hatte, als er sich für diesen Beruf entschieden hat?
© Simona_Hartmann 2022-11-06