Augenscheinlich blind

Peter Schäfer

von Peter Schäfer

Story

Egal von welcher Seite man sich dem Baum näherte, eines der beiden Kreuze, die dort auf gleicher Höhe angebracht waren, war immer sofort gut sichtbar, das andere erst im Vorbeifahren. Voneinander abgewendet, sozusagen mit dem Rücken zueinander, stigmatisierten sie den Baum in die jeweils entgegengesetzte Fahrtrichtung der angrenzenden Bundesstraße. Somit markierten sie ihn unübersehbar als einen Ort, an dem jemand sein Leben gelassen hatte.

Um die Kreuze zu fotografieren, näherte ich mich ihnen zunächst von der gegenüberliegenden Straßenseite, da hier ein Fußweg vorhanden war. Der Baum stand unmittelbar neben der Fahrbahn, auf der reger Verkehr herrschte.

Mit bloßem Auge konnte ich bereits erkennen, dass dem Stamm nur auf einer Seite ein großes Stück seiner Rinde fehlte, offensichtlicher Tribut einer schweren Kollision durch ein Fahrzeug. Es konnte also sowohl sein, dass beide Kreuze nur einer Person galten oder dass zwei Menschen bei dem gleichen Unfall ums Leben gekommen waren. Die Möglichkeit, so wie ich zunächst vermutet hatte, dass hier zwei unterschiedliche Ereignisse zu zwei Todesfällen geführt hatten, bestand ebenfalls.

Die Frage, was hier vorgefallen war, könnte man durch Polizei- und Unfallberichte beantworten, kam mir in den Sinn, als ich die Straße überquerte, um die Kreuze aus der Nähe zu betrachten. Allerdings interessieren mich die justitiablen Fakten eines Unfallherganges nicht wirklich. Sie beschreiben in der Rückschau Bewegungsabläufe, versuchen anhand von Indizien zu rekonstruieren, was später lediglich dem Richter und der Versicherung weiterhilft. Antwort auf die wesentlichen Fragen geben sie ebensowenig wie sie Trost spenden. Nicht alles, was bis ins Detail erklärt werden kann, ist deswegen auch verstehbar. Unser Blick kann immer nur einen Teil des Ganzen erfassen und lässt selbst bei scheinbarer Klarheit genug Raum für Unverständnis.

Auch im Fall der zwei Kreuze an diesem einen Baum hielt ich meinen Blick auf das Augenscheinliche immerhin für die ganze, sichtbare Wirklichkeit. Es bedurfte lediglich der Veränderung meines Standortes, um festzustellen, dass ich weniger als die Hälfte gesehen hatte. Unmittelbar neben dem bekreuzten Baum reihten sich drei weitere, kleine, in Form und Gestaltung identische, namenlose Kreuze auf, so wie Drillinge, die zu Füßen ihrer Eltern um Aufmerksamkeit buhlen.

In diesem Augenblick wurde mir klar, dass alles, was auf den ersten Blick offensichtlich und wahrhaftig erscheint, lediglich von der Perspektive des Betrachters abhängt. In diesem Fall hatte mir nicht nur eine in Kniehöhe angebrachte Leitplanke zunächst die Sicht auf das Gesamtbild verstellt. Hinzu kam auch das Unvermögen meiner Fantasie, an diesem Ort mit dem Gedenken an fünf Verkehrstote konfrontiert zu werden.

© Peter Schäfer 2021-12-14

Hashtags