Begonnen hat es mit einem pampfigen Gefühl am Stockzahn. Oben links vorletzter von hinten. Dann ein Ziehen. Dann die Schwellung. Mit der Zunge gefühlt so groß wie ein Kuheuter.
Die Zahnärztin ist beschäftigt und vertraut mich der Hilfszahnärztin an. Der entfährt ein „iiih“, als sie spiegel- und stocherbewehrt in meinen Mund lugt. War das eben Ekel oder Schrecken in ihrem Gesicht? Oder schon palliatives Mitleid? Sie holt die Chef-Zahnärztin heran, die mir kommentarlos einen Termin bei einem chirurgischen Kollegen empfiehlt. Sie verschweigt mir etwas. Was nur?
Mein Leben hängt an einem seidenen Faden. Soviel ist mir klar, während ich heimfahre. Dort wartet der einzige wahrhaft ehrliche Arzt auf mich: Dr. Google. Harmlos eröffne ich mit einer Fragen zu „Schwellung Zahnfleisch“. Seine Ideen rund um Entzündungs-Kinkerlitzchen könnten mich beruhigen. Aber erst, wenn ich jene Diagnosen ausschließen kann, die diverse „med-online“-Foren mit „Sehr selten: …“ einleiten. Kann ich aber nicht. Im Gegenteil: Von sieben Merkmalen für Oberkieferkrebs sind sechs nicht ganz falsch und eines trifft genau zu.
So tritt also der Tod ins Leben. Unerwartet, dafür umso bestimmter. Ich bin wütend. Dafür bin ich zu jung! Ich lade meine Frau mit bedeutungsvollem Gestus zu einem letzten (oder vorletzten) Abendmahl ins Szene-Restaurant und eröffne Ihr, dass bald alles aus ist. Sie beglückwünscht mich, dass mir das Essen totz der Umstände so ausgezeichnet schmeckt. Habe ich mir diese mitschwingende Süffisanz verdient? Nein. Nicht einmal im Angesicht des Todes kann sie mich ernstnehmen. Eine Scheidung zahlt sich nicht mehr aus.
Den Kieferchirurgen bereite ich schon beim Betreten des Behandlungsraumes stammelnd auf das Schlimmste vor. Er möchte von mir, dass ich den Mund halte und ihn dann aufmache. Während der Zahnbeschau lese ich in seiner Miene wie ein Mystiker in der Bibel. Entweder ist der Mann in Medizingrün pietätlos oder er hat gute Nachrichten für mich. Letzteres: Die Wurzelspitzenresektion wird nicht angenehm, aber dann wird wieder alles gut.
Mit dem Hautarzt und dem Melanom, das mir der im Hosensack ausgeronnene Kugelschreiber am Oberschenkel hinterlassen hat, war es ähnlich. Hauptberufliche Hypochonder wie ich sterben tausend Tode. Jede Vorsorgeuntersuchung zählt für zwei davon, jedes MRT als Hintreten vor das Jüngste Gericht. Jedesmal hat der Tod nur gespasst. Bis zu jenem Mal, wo er ernst sein wird. Zum Glück ist das nur einmal pro Leben.
Jetzt schließe ich mein „Tagebuch des Hypochonders“, weil ich ein Ziehen im Rücken habe. Wahrscheinlich das Kreuz vom vielen Sitzen. Wobei: Es könnte auch die Niere sein …
© Andreas Spannring 2021-03-04