von Bernhard Fellner
Die ersten Worte, die mir Lisa nach dem endlos langen Flug von Neuseeland ins Ohr flüsterte: „I need a shower!“
Zuhause angekommen hat sie es unmittelbar in die Tat umgesetzt und dann saß sie in einem weißen Bademantel und mit einem weißen Handtuch-Turban mir gegenüber in meinem Arbeitszimmer. Sie hat nichts gesagt, mich nur stumm angeguckt.
Das war unsere erste Begegnung. Die erste Begegnung mit meiner zukünftigen Schwiegertochter. Sie hat mein Herz nicht im Sturm erobert, sondern langsam, sachte, aber nachdrücklich.
Lisa hat ein sehr bewegtes Leben hinter sich. Geboren wurde sie in Namibia (ehemals Deutsch-Südwestafrika) als viertes Kind eines Niederländers und einer deutschen Mutter. Die Familie ist in der Folge nach Südafrika gezogen, das war aber nur ein Zwischenaufenthalt beim Erreichen ihrer endgültigen Destination Neuseeland.
Lisa und Matthias haben sich in Dunedin, einer kleinen Universitätsstadt auf der neuseeländischen Südinsel kennengelernt. Da sie eine eingefleischte facebookerin ist, konnten wir ihren Flirt ein bisschen und am Rande im Internet mitverfolgen.
Eines Tages hat Matthias, der mit solchen Meldungen eher zurückhaltend ist, gemeint, „sie sei die Richtige!“
Als die beiden beruflich nach Amerika übersiedelten, haben sie geheiratet.
Bei einer schönen USA-Rundreise, die wir gemeinsam in die Südstaaten unternahmen, hatte ich Gelegenheit, Lisa näher kennenzulernen.
Sie ist eine flammende und engagierte Klimaschützerin, die bei allen negativen Entwicklungen in dem Zusammenhang immer das Schlimmste befürchtet. Aber die Gefahr der Klimaveränderung hat sie jedenfalls schon lange, bevor es en vogue war, thematisiert.
Lisa ist ein sehr gläubiger Mensch und nimmt gern an Bibelrunden teil. Allerdings trägt sie ihren Glauben nicht „vor sich her“ und eifert auch nicht in diesem Zusammenhang.
Ihr Schlaf ist nicht der beste. Das bereitet ihr manchmal große Probleme. Wenn sie wachliegt neigt sie dazu, dunklen Gedanken nachzuhängen.
Obwohl sie ein sehr tiefer, nachdenklicher Mensch ist, kann sie nach außen sehr fröhlich und schlagfertig auftreten.
Als wir beim Abschied aus Amerika den Geburtstag von Matthias feierten, haben sich die beiden gegenseitig aus einem Buch vorgelesen, in dem sie festgehalten haben, was sie besonders am Anderen schätzen und lieben.
Diese Szene hat mich sehr berührt, zumal beide eher introvertiert sind. In diesen liebevollen Zeilen hat man nichts davon gemerkt. Hier haben sie sich wunderbar geöffnet und ließen einen Blick in ihre Herzen zu.
Ich werde nie vergessen, als wir am nächsten Morgen den Zug nach Chicago nahmen, wie die beiden uns vom Bahnsteig aus nachwinkten, der großgewachsene Matthias und die eher kleine Lisa.
Wir sind mit einem guten und positiven Gefühl von ihnen auf den Heimweg geschickt worden, weil sie uns verdeutlichen konnten, dass sie sich lieben und zueinander halten. Räumliche Distanz schafft Verunsicherung. Vertrauen beruhigt.
© Bernhard Fellner 2020-01-25