„Lass mich raten“, sagte der Jongleur, „auf dem Seil ist er immer dabei.“ Der Seiltänzer sagte mit geschlossenen Augen: „Wenn ich loslasse, hält er mich fest, wenn ich an einer Richtung festhalte, lässt er mich los.“ Sie ruhten bis kurz vor Morgengrauen und brachen noch in Dunkelheit auf. Auf dem Kamel unter den Sternen. Ganz vorne an den Zügeln saß der Jongleur, der etwas in der Hand halten musste, in der Mitte Akiva und hinter ihm der Clown. Der Seiltänzer rechts neben dem Kamel mit dem einen abgebundenen Ende seines Seils in der rechten Hand, die linke am Sattel. Sie gingen entlang des Seils zur anderen Palme hinter den zurückgelassenen Dünen, damit der Seiltänzer das andere Seilende abbinden konnte. Die ewige Stille in der Wüste sorgte dafür, dass man dem Wind lauschen konnte. Doch an diesem Tag hörte sich der Wind anders an. Für den Seiltänzer, der den Wind für seine Balanceakte genau studiert hatte, schien der Wind zwischendurch stehenzubleiben. Er fand es ungewöhnlich und lief weiter raus. Der Jongleur sprang vom Kamel, warf eine Dattel in die Luft, um zu sehen, ob sie wieder in seiner Hand landen würde. Erst im letzten Moment konnte er sie noch einfangen. „Etwas stimmt nicht“, sagte er. Der Seiltänzer war inzwischen nicht mehr zu sehen. „Kommt schnell!“, hörten sie ihn rufen. Der Clown half Akiva vom Kamel und alle orientierten sich an dem Widerhall der Stimme, den es in der Wüste auch gab. Sie versammelten sich neben dem Seiltänzer in einem Dünental und schauten mit offenem Mund auf einen sich merkwürdig bewegenden Schatten. Als sie weitergingen, sahen sie eine Gestalt mit schwarzer Hose, schwarz-weiß gestreiftem Oberteil, roten Hosenträgern, rotem Halstuch, schwarzer Mütze und weiß geschminktem Gesicht. Sie war im Freien, aber schien, wie eingesperrt, irgendwo drinzustecken und sich mit senkrechten Händen und ausgestreckten, geschlossenen Fingern an einer unsichtbaren Wand abzutasten. „Diese Hände stehen gegen den Wind“, stellte der Jongleur fest. Die Gestalt drehte ihren Kopf um 90 Grad und platzierte mit großen Augen ein Ohr zwischen ihren Händen, als würde sie irgendetwas erhaschen wollen. „Wie kommt er da raus?“, fragte Akiva und wollte loslaufen, um die fremde Gestalt bei der Hand zu nehmen. „Nein, warte“, sagte der Clown und hielt Akiva fest. „Es erinnert mich an eine Erzählung, die von einer Pantomime handelte. Sie spricht nicht, sie führt etwas vor.“ Akiva erinnerte sich an diese Erzählungen. Er kniff kurz seine Augen zusammen, um danach zu sehen, ob es nicht doch eine Wand vor der Pantomime gab. Sie alle waren ein wenig eingeschüchtert von den merkwürdigen Bewegungen dieser Gestalt, aber irgendetwas sagte ihnen, dass von ihr keine Gefahr ausging. Es war wie eine kleine Zirkusvorstellung in diesem Tal zwischen zwei Dünen. „Noch ein Verrückter. Hallo?“, rief der Seiltänzer. Keine Reaktion. Und plötzlich ertastete die Pantomime ein unsichtbares Fenster, aus dem sie herausklettern konnte. Froh darüber, herausgekommen zu sein, verbeugte sich die Pantomime vor Akiva und jedem anderen einzeln und ging zuallerletzt zum Clown. Sie begutachtete seine Schminke und schenkte ihm einen Rosenkopf aus ihrer Brusttasche, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Der Clown begann, laut mit Widerhall zwischen den Dünen zu lachen: „Sich selber ein Gefängnis schaffen und dann selber einen Ausweg herbeizaubern! Der war gut, hahaha!“ Er applaudierte. Da verbeugte sich die Pantomime vor dem Clown. Akiva faszinierte, wie die Pantomime etwas geschaffen und dann selber aufgelöst
© thewrittenunwritten 2024-08-28