Ausgeglaubt

Rafaela Carmen Scharf

von Rafaela Carmen Scharf

Story

Schon als sie klein war, wollte sie ins Gymnasium. Sie wusste überhaupt nicht, was das war, das Gymnasium. Aber es klang wie eine griechische Sage, klug und so durchwoben von Geheimnissen. Nach der Volksschule also stieg sie auf in den Olymp. Doch nicht ohne Sorge, denn es fehlte an jemandem, der an sie glaubte. »Gymnasium? Das schafft die nie«, hatte ihre Volksschullehrerin gehöhnt. Damit hatte sie es zu ihrer größten Aufgabe gemacht, es doch zu schaffen. Denn schon immer wollte sie das, was sie nicht haben konnte.

Nach ihrem ersten Tag in diesem Wissenstempel schilderte sie alles ihrer Oma. Die Professoren erschienen ihr wie Götter, sie mussten sogar aufstehen, sobald sie den Raum betraten, um ihnen Respekt zu zollen. »Nina«, sagte sie, »das sind doch keine Professoren. Das sind nur Lehrer. Echte Professoren findest du nur auf der Universität.«

Sie hatte keinen Begriff von der Universität, noch, wofür sie sie brauchen könnte. Aber sie malte sich den absoluten Widerspruch zu dem Ort aus, von dem sie kam. Im Gemeindebau war alles grau, so, als klebten immerwährend Regenwolken an den Wänden. Die Geräusche, die am Abend durch ihr Fenster wehten, waren sehr echt, sehr menschlich. Vielleicht zog es sie deswegen immer zu den Übermenschen, die sie in ihrer Fantasie auf der Universität verortete. Sie wollte an diesen Ort des sphärisierten Wissens, einen Ort, der sie dieser existentiellen Endstation entheben konnte.

Also setzte sie alles daran, um an diesen Ort zu gelangen. Auch jetzt fehlte es in der Schule an jemandem, der an sie glaubte. Sie fiel nicht auf, war nichts Besonderes. Wenn überhaupt war sie das Mittelmaß. Doch ihr ganzes Sein konzentrierte sich auf diesen einen Moment, in dem sie die erhabenen Stufen zum Universitätsgebäude hinaufschreiten und sich zwischen all diesen überirdischen Zukunftsverheißungen wiederfinden würde.

Schließlich erreichte sie ihn, diesen Ort. Und weiter? Ihr ganzes Lebensstreben hatte sich auf dieses eine Ziel zubewegt. All die Jahre war alles in ihr diesem Seinszenit so sehr zugestrebt, dass sie nun nicht wusste, was sie, dort angekommen, überhaupt machen sollte. Schließlich entschied sie sich dazu, Publizistik zu studieren und tauschte ihren Namen bei der Studienzulassung erfolgreich gegen eine Nummer ein.

Der erste Tag auf der Uni fühlte sich an wie der erste Tag ihres Lebens. Sie war bereit, sich mitreißen zu lassen von diesem elektrifizierenden Strom aus Wissen. Eine Masse aus Menschen schob sie in den Großen Hörsaal, wo sie einer dieser Götter erwartete. Doch er entpuppte sich als Götze. Streng sah er vom Podium auf sie alle hinab und sagte: »Wenn Sie hier sind, weil Sie schreiben, weil Sie etwas erreichen wollen, gehen Sie wieder. Schauen Sie sich um, Sie sind nur einer von vielen.«

An diesem Tag ist etwas in ihr zerbrochen. Doch sie lernte auch, an sich selbst zu glauben. Denn in diesem Bildungsgefüge würde sie niemanden finden, der das sonst für sie tat.

© Rafaela Carmen Scharf 2021-02-19

Hashtags