von Jenny Marx
„Seien Sie froh, dass Sie den Ausstieg aus dieser psychotisch-neurotischen Umgebung geschafft haben!“
Das klang anerkennend. Und ganz schön hart. Immerhin sprach die Therapeutin von meiner Familie. Es dauerte einige Monate, bis ich ihr aus vollem Herzen zustimmen konnte.
Bei meiner Mutter war es eine klare Sache. Diagnose: Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Beim ersten Nervenzusammenbruch war ich ungefähr acht, meine Schwester drei Jahre älter.
Mein Vater ging, nachdem er sich von meiner Mutter getrennt hatte, eine Beziehung zu einer jüngeren Frau ein. 36 Jahre Altersunterschied in einer Partnerschaft sind zumindest eine Auffälligkeit. Und leider wurde mit jedem Jahr, das diese Beziehung existierte, das Muster dahinter immer deutlicher: Die Kindfrau entwickelte eine Psychose nach der anderen und mein Vater richtete sein Leben danach ein, möglicherweise froh darüber, gebraucht zu werden. Wegen aufkommender Angstzustände fuhr sie weder Fahrrad noch Auto. Handy und WLAN waren Teufelszeug. Irgendwann konnte sie keine Nacht mehr allein verbringen. Es wurde deutlich, in welche Co-Abhängigkeit er sich begeben hatte. Sie diktierte sein Leben und er ließ es geschehen.
Meine Schwester, die, wenn auch anders gezeichnet aber doch ebenso tiefe Narben wie ich aus unserer Kindheit zeigt, lädt unsere getrennt lebenden Eltern jedes Jahr zum traditionellen Weihnachtsessen ein. Und sie kommen. Dann sitzt sie mit unserem Vater – selbstverständlich ohne seinen Jungbrunnen – und unserer psychisch kranken Mutter zusammen und unterhält sich. Ganz ehrlich: Ich möchte nicht wissen, worüber.
Ja, ich denke schon, dass ich froh sein sollte, eine Abzweigung aus dieser familiär-ungesunden Umgebung gefunden zu haben – für mich und meine beiden Kinder. Der 600-km-weite Abstand wird vor allen ihnen dabei helfen, eine ganz neue und möglichst unbelastete, eigene Familiengeschichte zu schreiben. Er wird ihnen definitiv ersparen, sich im jugendlichen Alter ständig fragen zu müssen, ob sie vielleicht ein ähnliches Schicksal ereilen wird. Sie werden sich nicht ständig selbst beobachten und fragen, ob ihre Handlungen oder Gefühlsausbrüche noch „normal“ oder schon krank wirken. Das war meine Aufgabe. Was wird ihre sein?
Kindheits-Traumata und Familien-Probleme werden generationsübergreifend verarbeitet. Ich kann dafür sorgen, dass das Päckchen kleiner und leichter wird. Und das will ich gern tun.
Neulich fragte mich mein hochbetagter Vater, ob ich meine etwa gleichaltrige Mutter nicht noch einmal würde sehen wollen, nachdem ich den Kontakt zu ihr die letzten 10 Jahre erfolgreich vermieden habe. Meine Schwester und er seien der Meinung, dass mir das gut tun würde. Wahrscheinlich war das ein berauschendes Ergebnis eines gemütlichen Weihnachtstreffens.
NEIN, das würde mir gar nicht gut tun! Fast 50 Jahre alt und endlich weiß ich, was mir gut tut. Einmal mehr und immer öfter. Für mich, für meine Kids.
© Jenny Marx 2022-08-09