Ich höre es, noch bevor ich es sehe. Tumult bricht vor mir im Flur aus. Ich verdrehe die Augen. Wahrscheinlich wieder eine Prügelei, bei der sich die Jungs beweisen müssen. Mein Kumpel Alex schiebt sich durch die Menge und bahnt uns einen Weg.“Da ist sie.”, höre ich. Es knallt. Mir sind die Bücher aus der Hand gerutscht. Jemand fasst mich am Ellbogen, aber ich reiße mich los. Stimmen versuchen zu mir durchzuringen, aber ich sehe nur Sie. Ich fange an zu rennen. Die Menge teilt sich nun freiwillig für mich.
“Nora!”, kreische ich. Die Stimmen werden leise. Meine ehemals beste Freundin Nora steht auf dem Dachvorsprung unserer Schule und sieht in die Tiefe. Ich habe sie monatelang nicht gesehen, aber ich erkenne sie sofort. Was macht sie hier? Sie ist auf eine andere Schule gewechselt, sie wollte keinen Kontakt mehr. Mittlerweile befinde ich mich ebenfalls auf dem Dach. Wind streicht über meine Haut, bereitet mir eine Gänsehaut.
“Komm nicht näher!“ Ich erstarre, habe Angst.“Was ist passiert? Bitte rede mit mir und komm um Himmels willen da weg!”, rufe ich. Lehrer stehen an der Tür. Einige versuchen, wie ich, Nora zu besänftigen. Andere telefonieren, wieder andere verscheuchen Gaffer. “Was hat das für einen Sinn, Carrie? Wir sind keine Freunde mehr! Und warum? Weil ich es zerstört habe, wie ich alles andere zerstört habe.” Ich erinnere mich an den Schmerz, den ihr Kontaktabbruch in mir auslöste. „Wir können von vorne anfangen!” Ich lüge. Der Schmerz sitzt tief und ich weiß nicht, ob ich ihr vertrauen kann, aber ich muss dafür sorgen, dass sie bleibt.“Alles hat seinen Sinn verloren! Meine Familie hasst mich, weil ich nicht gut genug bin, hässlich bin. Du hasst mich, weil…”
“Ich wäre nicht einmal dazu in der Lage, dich zu hassen!”, schreie ich gegen den Wind und wie ich die Worte ausspreche, merke ich, wie wahr sie sind. “Sir”, füge ich leise hinzu, weil wir uns damit früher aufgezogen hatten. Bei dem Kosenamen sieht sie mich an. In ihren Augen spiegelt sich Schmerz, Verlust, Trauer, Einsamkeit, Wut, Verachtung und eine Gleichgültigkeit, die mir einen Schauer über den Rücken jagt. “Nora, bitte. Denk an deine Familie. Sie liebt dich. Ich liebe dich. Deine Freunde lieben dich.” “Ich danke dir, Ma´am!”, ruft sie und springt. Sie springt. Ohne Vorwarnung.“Nein!” Ich realisiere nicht einmal, dass der Schrei von mir kommt. Ich stürze nach vorne zur Dachkante, doch Arme schlingen sich um meinen Oberkörper und halten mich fest. Es ist Alex. Ein Schluchzen schüttelt meinen Körper. Ich fange an zu schreien, trommele gegen Alex´ Brust.
Unter den Tumult, die Stimmen der Lehrer und bestürzte Ausrufe, mischt sich nun Martinshorn, aber ich weiß, dass sie zu spät sind. Sie sind zu spät, genau wie ich zu spät gekommen bin. Ich hätte etwas merken müssen! Ihre letzten Worte waren an mich gerichtet gewesen. Sie hatte sich bedankt, dabei hatte ich ihr nicht helfen können. Mit dieser Wahrheit, breche ich zusammen, gekrümmt vor Schmerz und doch nicht allein.
© Fabienne Biermann 2021-06-27