von Jonas Krämer
Auch Franka war nahezu am Ziel ihrer Pläne. Sie musste Karl nur noch das Messer, das in ihrem Ärmel versteckt war, in die Brust jagen.
Dieser Narr. Nur weil er neben Franka der Dienstälteste war, war er bis zum Posten des Vizedirektors hochgestolpert. Dabei hatte er stets betont, dass die Arbeit in der Gilde für ihn nur ein Job sei. Mit solch einer Einstellung konnte Franka nichts anfangen. Sie brannte dafür, die alleinige Kontrolle über die Gilde zu übernehmen.
Franka wartete auf einen günstigen Augenblick, um zuzuschlagen. Schon die kleinste Unachtsamkeit ihres Kollegen würde genügen. Vielleicht wandte er sich an die Trauergemeinde, schloss die Augen für ein stilles Gebet oder atmete unvorsichtig aus. Egal was es war, Franka würde die Gelegenheit erkennen und bereit sein.
Doch als sie nun regungslos am Grab wartete, fiel ihr etwas auf. Sie lauerte schon eine ganze Weile und keine Gelegenheit hatte sich ergeben. Karl hatte sich kein einziges Mal bewegt.
Franka riskierte einen schnellen Blick zu Karl und aus dem Augenwinkel erkannte sie, wie er ebenfalls zu ihr herüberspähte! Doch als er ihren Blick bemerkte, schaute er sofort zum Sarg zurück und stand wieder reglos da. Tat so, als wäre nichts gewesen.
Nun wurde Franka nervös. Was hatte das zu bedeuten? Warum bewegte er sich nicht? War sie durchschaut worden? Oder wartete er auch auf etwas? Aber was sollte das denn sein?
Und plötzlich sah Franka die Wahrheit so klar wie ein Brillenträger durch seine Brille, der gerade seine Brille mit einem Brillenputztuch geputzt hatte.
Karl hatte den gleichen Plan wie sie selbst! Franka Hände wurden feucht und ihre Lippen trocken. Jetzt nur keine Panik.
Karl achtete auf jede noch so kleine Bewegung. Würde sie zustechen, könnte er ihren Angriff sicherlich parieren. Und dann würde es zu einem Kampf kommen. Und dabei konnte man sterben! Oder noch schlimmer, sich schmerzhaft verletzen! Oder am allerschlimmsten, sich vor der versammelten Belegschaft blamieren!
Sollte sie sich also einfach zurückziehen? Karl auf die Schulter klopfen und sagen: „Haha, so ein Zufall, aber nichts für ungut.“ Nein, dann wäre die gesamte Planung umsonst gewesen. Und außerdem bestand durchaus die Möglichkeit, dass Karl den Moment für sich nutzen würde und einfach seinerseits zustach!
Franka und Karl befanden sich also in einer Zwickmühle! Versuchen Frieden zu schließen oder angreifen, diese Handlungsoptionen überforderten sie. Und wie die meisten Menschen, die nicht wissen, was sie tun sollen, taten sie stattdessen einfach überhaupt nichts. Standen nur regungslos und in wachsender Panik nebeneinander am Grab.
© Jonas Krämer 2022-07-31