Die dunklen Schatten der Bäume bewegten sich an den hohen Wänden ihres Zimmers. Ihre Gelenke schmerzten. Sie hatte es schon gehört. Ein Vorfall auf dem Übungsplatz. Ein Mann aus Enéva war eingetroffen. Es hatte begonnen. Ihr Schicksal kam ihr nun mit rasch zunehmender Intensität real und unvermeidlich vor. Wäre sie doch nie 17 geworden. Sie starrte in den Spiegel am anderen Ende des Zimmers. Ihr verschwommenes Selbst starrte zurück. Sie hatte das Bedürfnis zu weinen, aber sie war so müde. So unfassbar müde. Kein Wunder, dass ihr der Tod unmittelbar bevorstand.
Wie gerne hätte Avi sie jetzt gesehen. Bevor sie sich ins Bett legen würde, wollte sie noch die Sterne anschauen. Sie schlich zum Fenster. Sie ließ ihren Blick schweifen. Als sie ihren Blick vom schmerzenden grellen Licht der Sterne abwandte, sah sie Neptura auf der Wurzel des Wohnbaumes stehen. Avi sah von oben, wie der Wind durch Nepturas Haare wehte. Ihr Herz zog sich zusammen. Gerne wäre sie auch so frei gewesen. Ihr schwächlicher Körper hatte sie nie mit Neptura mithalten lassen.
Trotz ihrer feinen Ohren hatte Neptura sie noch nicht bemerkt. Avi kicherte sanft. Neptura blickte nicht auf während sie an den vielen Astnarben und Vertiefungen im Holz nach oben kletterte. Sie trug ihre Rüstung bereits nicht mehr, obwohl Neptura sonst immer bis spät in die Nacht trainiert hatte. Heute war es anders. Leicht außer Atem kam sie auf gleicher Höhe zu Avi an. „Morgen ist es so weit“, sagte Neptura und trat unter Avis Fenster. Ihre kastanienbraunen Haare tänzelten über ihren Schultern. Bei Nacht schienen ihre Augen schwarz zu sein. Sie gab sich Mühe einen gefassten Eindruck zu machen: „Der Enéva ist sehr nett. Ich habe jetzt auch seinen Namen erfahren, er heißt Saturin. Wir verstehen uns gut, der Flug wird reibungslos verlaufen.“ Avi nickte „das sind beruhigende Worte.“ Beide schwiegen eine Weile. ,,Ich habe Angst“, presste Avi hervor. Neptura senkte ihren Kopf. Als sie ihn wieder anhob, blickte Avi einem Gesicht entgegen, das sie bereits ihr ganzes Leben gesehen hatte. Ein Gesicht durch Mitleid verzerrt. Avi konnte es nicht mehr ertragen. Neptura nahm ihre Hand ,,Wir stehen das zusammen durch, ich werde bei dir sein“, dann deutete Sie eine Verbeugung an und sagte: „Bis morgen.“, „Ja bis morgen. Avi fröstelte. Es war eine kühle Nacht. Sie wusste das Neptura gelogen hatte. Avi wusste auch, dass sie nie ohne einen guten Grund lügen würde. Schon gar nicht zu ihr, also hatte sie nicht nachgefragt. Sie kannten sich schon so lange.
© Charlotte Günther 2023-08-30