von Sonja M. Winkler
Wo ich aufgewachsen bin, gibt es keine Kabanen. So kam das Wort erst spät im Leben zu mir. Ich hörte es zum ersten Mal, als B. erwähnte, ihre Großeltern hätten eine Kabane im Gänsehäufel gehabt. Ich dachte zuerst, ich hätte mich verhört, und sie meinte „Kabine“.
Nein, du hast schon richtig gehört, sagte B. „Kabane“ kommt aus dem Französischen, wo’s eine Kajüte ist, bei uns ist’s ein Raum in Sommerbädern, ein begehrtes Refugium von variabler Größe, das für eine oder mehrere Saisonen gemietet werden kann, wobei die Liste derer, die auf eine Kabane spitzen, recht lang ist, weil manche Familien seit Generationen Dauermieter sind.
Am Dienstag war ich im Thermalbad Vöslau. Auf der Suche nach einem freien Kästchen kam ich vorbei an ansehnlichen Kabanen, unter deren Vordächern ältere Herrschaften in Liegestühlen schmachteten.
Das Areal des Bades ist weitläufig. Wer’s ruhig haben will, lässt das Becken, in das unentwegt kaltes Wasser aus der Ursprungsquelle sprudelt, hinter sich und steigt die Stiegen hinan bis zum Föhrenwäldchen. Dort schaukeln Badegäste in Hängematten, in der Milchbar sitzen Menschen, die lesen. Im Biotop schwimmen Seerosen. Auf den hölzernen Liegeflächen räkeln sich Bikinischönheiten.
Ich lass mich vor einer Informationstafel nieder. Seit 15.000 Jahren sprudelt mineralhaltiges Wasser aus 7 Quellen. Es pumpt sich mit eigener Kraft aus 660 m Tiefe an die Oberfläche.
Hunger und Durst stille ich im Thermalbadstüberl. Bis auf einen Tisch, an dem vier füllige Frauen bei Kaffee und Kuchen sitzen, sind alle frei. Das vierblättrige Kleeblatt: dieselbe Kurzhaarfrisur und ganz schöne Bröckerl, denk ich mir. Dicke Oberarme, ausladende Brüste. Braungebrannt, faltenlos und feist. Irgendwann musst du dich entscheiden, erklärte mir eine Freundin schon vor Jahren, Fett oder Falten. Als ob ich die Wahl hätte. In meinem Fall: Falten. Eine der vier, die in meinem Blickfeld sitzt, trägt ein rotes T-Shirt mit Glitzerapplikation. Sie tut sich als Dauerrednerin hervor. Ich schnappe auf: Gehirntumor, ein Todesfall, eine Seelenmesse.
Beethovens Leibarzt stellte die heilende Wirkung des Vöslauer Mineralwassers fest. Das sprach sich in der Folge schnell herum. Wer gutsituiert war, fuhr nach Vöslau zur Sommerfrische. Schnitzler kam hierher und plauderte mit Berta Zuckerkandl, in deren Salon er auch verkehrte. Doderer und Hofmannsthal sind ebenfalls durchs kalte Quellwasser gewatet.
Um 1900 waren die Badekostüme aus Baumwolltrikot oder Flanell, meist Zweiteiler mit Pumphose. Es kam vor, dass sich das Material derart mit Wasser ansoff, dass so manche Dame gerettet werden musste, bevor sie die Badekleider in die Tiefe zogen.
Diese Gefahr besteht beim textilarmen Bikini nicht, der seinen Namen einem Atoll im Pazifik verdankt, wo nach dem 2. Weltkrieg Atomtests stattfanden, die als sensationell bewertet wurden, damals, als man noch keine Ahnung hatte von den verheerenden Folgen einer Nuklearkatastrophe.
© Sonja M. Winkler 2022-08-19