BahnCard 100 über alles

Johanna Roch

von Johanna Roch

Story

Es stand mal wieder eine längere Fahrt an. Diesmal war ich jedoch nicht allein auf meiner Reise. Mein damaliger Partner war mit von der Partie, da wir uns auf dem Weg zu einem gemeinsamen Urlaub befanden. Da wir lange Zeit in einem Zug verbringen sollten, reservierten wir uns vorsichtshalber zwei Plätze. Nach unserem Einstieg stellten wir jedoch fest, dass dies anscheinend vollkommen unnötig gewesen war. Die Reservierungen in unserem Waggon waren ungültig, da spontan ein anderer angehängt werden musste. Wir kämpften uns nun also durch den vollgestopften Zug in der Hoffnung noch ein Plätzchen für uns zu finden. Vollgepackt bis oben hin ergatterten wir uns zwei Sitze und ließen uns erschöpft fallen. Da der Stauraum ebenfalls sehr begrenzt ausfiel, hatten wir unser Gepäck teilweise unter unseren Füßen und auf unserem Schoß verteilt. Eine äußerst bequeme, mehrstündige Fahrt konnte beginnen. Direkt neben uns hatte eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm ebenfalls ihren Platz gefunden. Dieses war für die meisten Kinder im Zug ungewöhnlich entspannt und schlief fast die ganze Fahrt. Nach etwa einer Stunde stieg ein Mann in unseren Zug und schlenderte durch den Gang unseres Waggons. Direkt neben uns blieb er stehen und sah uns skeptisch an. Er trug eine einzelne Aktentasche bei sich, war in einen vermutlich teuren grauen Anzug gekleidet und hatte seine Haare nach hinten gegelt. Dann kramte er in seiner Tasche und zog eine schwarze Karte heraus, die er uns demonstrativ entgegenstreckte.

Es war eine BahnCard 100. Mit dieser sei er berechtigt, sich überall hinzusetzen, wo er wolle, wenn es keine reservierten Plätze wären. Perplex sahen wir uns an und auch auf das ganze Gepäck, was wir um uns herum aufgetürmt hatten. Mit dem Bewusstsein, dass wir vermutlich keinen anderen Platz mehr im Zug finden würden, räumten wir langsam unsere Sachen zusammen. Siegessicher posierte der Herr neben uns, als eine ältere Dame, die alles mit angehört hatte, das Wort ergriff und den Anzugträger darauf hinwies, dass direkt neben uns doch noch ein Platz frei wäre und er doch nicht uns junge Leute mit dem offensichtlich vielem Gepäck von unseren Plätzen zu verjagen gedenke, wo er dann doch nur alleine mit seiner Aktentasche säße. Ertappt holte der Mann tief Luft. Nachdem er gesehen hatte, dass nun viele weitere Augen auf ihn gerichtet waren, steckte er entrüstet seine Karte zurück in die Tasche, ließ sich neben die Dame mit dem Kleinkind auf dem Schoß plumpsen und drehte sich betont unzufrieden mit der Situation mit einem Bein ausgestreckt in den Gang. Nach etwa einer dreiviertel Stunde verließ er den Zug dann erhobenen Blickes und ließ damit eine leicht kichernde Anzahl an Menschen hinter sich zurück.

© Johanna Roch 2022-08-28

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