Bar Open 24/7

Judith Lahfeld

von Judith Lahfeld

Story

Die Frau am Tresen sieht sehr müde aus. Sie ist auch schon nicht mehr die Jüngste aber die Lachfalten um ihren Augen sagen mir, dass sie ihren Job gern macht. Sie stützt ihr Kinn auf ihre mit Adern durchzogenen Hände auf und liest nebenbei die Tageszeitung. Es ist bereits drei Uhr morgens und aktuell ist nicht mehr viel los. Ich setze mich wieder an meinen Platz und beobachte durchs Fenster das Treiben in der Stadt. Draußen ist es deutlich belebter. Ein Auto hupt und irgendwo streiten sich zwei Frauen. Der ständige Wechsel der Ampelfarben lässt die Wände aussehen, als würde irgendwo eine Discokugel hängen. Rot, gelb, grün. Musik läuft nicht. Die meisten Menschen hier sind schon sehr müde.

Ich nippe an meinem Glas Wasser. An der großen freien Wand hängt ein viel zu kleines Bild mit einem Stillleben, das irgendwie so gar nicht in diese Atmosphäre passt. Seit Stunden starre ich darauf und höre die große Uhr ticken, die gegenüber an der Wand hängt. Eine andere Frau schlurft an mir vorbei und geht zur Toilette, während ein Krankenwagen draußen vor der Tür hält. Zwei junge Männer haben sich geprügelt. Der eine von beiden hat eine blutige Nase und torkelt. So ist das halt an Freitagabenden in der Stadt.

Mittendrin in diesem ganzen Szenario sitze ich, erfüllt mit Glück und nüchtern wie ein Stockfisch. Ich bestelle mir noch einen Tee, die Auswahl ist hier nicht besonders groß. An diesem Ort kommen viele Menschen zusammen. Junge und alte. Glückliche und unglückliche. Seit Jahrzehnten erzählt er viele Geschichten und ist ein Herzstück in unserem Stadtbezirk. Essen wird hier auch angeboten aber das lohnt sich nicht. Meistens riecht es wie die Gerichte in der Schulkantine und wird nur aufgewärmt. Aber was soll’s, man muss ja etwas im Magen haben, damit man nicht schlapp macht. Die Frau am Tresen hakt auf ihrer Liste ab, ob noch genug Milch, Konserven und Tomatensaft vorrätig sind. Für genug Cocktails würde es auf jeden Fall reichen.

Die Einrichtung ist eher spartanisch und nicht mehr ganz so modern. Aber darauf kommt es nicht an. Wichtig ist, dass die Menschen sich geborgen fühlen. Ich stehe auf und laufe ein bisschen herum. Hier werden auch Betten angeboten und ich werde eine Nacht bleiben. Meine Sporttasche mit Kleidung steht neben mir. Die Frau von der Toilette ist wieder da. Unsere Blicke treffen sich und wir lächeln uns durch müde Augen an. Dann gehen wir zu den kleinen Beistellbetten, in denen unsere Neugeborenen liegen. Sie streichelt sanft über die Wange ihrer Tochter, die rabenschwarze Locken hat und selig schläft. Ich hebe meinen Sohn hoch und lege ihn an meine Brust. An meine ganz persönliche Bar, die 24 Stunden geöffnet hat. Unten in der Rettungsstelle kommt schon der nächste Krankenwagen an. Ich hoffe, dass es dem Menschen gut geht. Denn Freud und Leid liegen hier nah beieinander. Wir beiden Mamas fühlen das pure Glück, während wir im Kreißsaal unter uns schon das Schreien eines neuen Gastes hören.

© Judith Lahfeld 2022-08-15

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