Bäume umarmen und Gedanken aufschreiben

Olivia Melissa Onode

von Olivia Melissa Onode

Story

Ein Baum hat viele Geschichten zu erzählen. Man möge doch nur einmal darüber nachdenken, wie viel wundervolle Poesie unter den schützenden Ästen eines Baumes entstanden ist. Wie viele Gedanken in einem Tagebuch, mit dem Rücken an den starken Stamm eines Baumes gelehnt, niedergeschrieben wurden. Wie viele Geheimnisse einem Baum anvertraut wurden, weil keine Menschenseele in der Nähe war.

Jedes Jahr schöpft der Baum aufs Neue Energie, um seine wundervolle Blätterpracht zu präsentieren. Doch weshalb macht er das? Er könnte sich doch einfach dazu entscheiden, in einem Jahr kahl zu bleiben. Aber ein Baum macht keinen Unterschied zwischen Menschen. Jeder Mensch hat es verdient, seine Blätterpracht zu bestaunen. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, das Gefühl von Sicherheit im Rücken zu spüren, wenn er sich gegen seinen Stamm lehnt. Jeder Mensch sollte die gleiche Chance haben.

Denn ein Baum wird immer am selben Ort auf einen warten. Von allein wird er sich nicht bewegen. Er ist wie eine Stütze und möchte auch als solche gesehen werden. Und wenn man die heilende Kraft der Natur spüren möchte, so muss man nur einen Baum umarmen.

Gedanken sind heimtĂĽckisch. Sie schleichen sich von auĂźen ein. Und wenn man nicht aufpasst, hat sich auch schon ein Glaubenssatz verankert.

Manchmal sind sie wie ein ungeordneter Wollknäuel. Chaotisch, in alle Richtungen gehend und der rote Faden ist nicht mehr zu erkennen. Sie überschlagen sich, vor allem dann, wenn man nicht achtsam in der Gegenwart bleibt. Sie verleiten einen an vergangene Geschehnisse zu denken, und schon ist man in der Vergangenheit, wo man keine Macht hat, den Lauf der Dinge noch zu beeinflussen. Sie sind schon geschehen. In turbulenten Zeiten, in denen man etwas zer-denkt, hilft es, sich das wieder ins Bewusstsein zu holen. Gedanken definieren einen nicht, sie sind lediglich Gäste, die man entweder willkommen heißen oder wieder verabschieden kann, wenn sie einem nicht dienlich sind.

Genauso wie Gedanken die Kraft haben, einen in die Vergangenheit zu ziehen, können sie einen in die Zukunft katapultieren – oder erwecken zumindest den Anschein. Denn die Realität ist: Wer weiß schon, was morgen geschehen wird? Der Weg vorbei an Erwartungen ist eine schmale Gratwanderung. Erwartungen machen nicht glücklich. Sie enttäuschen. Doch paradoxerweise ist Enttäuschung an sich wieder etwas Gutes. Denn man wird ent-täuscht, man blickt der eigentlichen Tatsache ins Auge, die Täuschung verschwindet.

~ Eine Enttäuschung ist das Schwinden einer Täuschung. Man wird ent-täuscht und somit kann es etwas Gutes sein. ~

Wie sollte man nun mit sich aufdrängenden Gedanken umgehen? Dazu gibt es viele Möglichkeiten. Sie aufzuschreiben ist der erste Schritt. In den meisten Fällen wird bereits während dieses Prozesses deren Widersprüchlichkeit aufgedeckt. Es ist so, als würde man den Wollknäuel langsam entknoten – und den ursprünglichen roten Faden darin wiederentdecken.

© Olivia Melissa Onode 2022-08-20

Hashtags