von Silvia Peiker
Ab und zu blinzeln ein paar unternehmungslustige Sonnenstrahlen hinter dem Wolkenvorhang hervor. Nur wenige Spaziergänger sind an diesem lauen Herbsttag entlang des Liesingbaches unterwegs. Ich schwinge die Walkingstöcke und freue mich über die schönen Sonnenblumen, die in Harmonie mit dem Orange der Kürbisse auf dem Pflückfeld des Biobauern wachsen.
Die Idylle wandelt sich im Nu in ein Spektakel, als zwei Rehe über den Acker laufen. Das Flinkere von beiden möchte durch den engmaschigen, ein Meter hohen Zaun schlüpfen, der das Feld bis auf wenige Öffnungen umgibt. Jedoch nur der schmale Kopf und die Vorderbeine des Wildtieres können sich durch die kleine, rechteckige Öffnung zwängen, der Leib und die Hinterläufe stecken auf der anderen Seite fest.
Die markerschütternden Schreie des gefangenen Tieres spornen mich an, mein Tempo zu beschleunigen. Ein Pärchen mit drei kleinen Hunden ist schon auf Höhe des armen Gefangenen. Endlich erreiche ich die Unfallstelle und bitte den älteren Mann, sich mit den Hunden zu entfernen, denn das Tier hat bestimmt Angst vor den Dackeln. Nachdem die aufgeregten Vierbeiner weg sind, versuchen wir zu zweit, das Reh aus seiner misslichen Lage zu befreien.
Die junge Frau möchte Kopf und Oberkörper des Rehs auf den Acker zurückschieben, doch da spielt das verschreckte Wildtier nicht mit. So steigt sie behende über das Gitter, während ich mich bemühe, den vorderen Leib des Pechvogels festzuhalten und mit ruhiger Stimme auf das Tier einrede. Doch das Reh wehrt sich vehement dagegen, von mir gehalten zu werden, sieht sein Heil nur in der Flucht nach vorne.
Die missliche Lage des Wildtieres verleiht mir anscheinend Superkräfte, denn ich schaffe es, den starken Metalldraht ein wenig zu dehnen. Mit vereinten Kräften gelingt es uns schließlich, dem armen Tier zu helfen, seinen Hinterleib durch die enge Öffnung zu schieben. Mit einem Satz springt das Reh die Böschung hinunter, sprintet durch den nur wenig Wasser führenden Bach und verschwindet zwischen Bäumen und Sträuchern auf der anderen Seite.
Meine Gefährtin ist zuversichtlich, dass unser Schützling wieder zu seiner Herde finden wird. Wir verabschieden uns und während sie zu ihrem wartenden Begleiter läuft, sitzt mir der Schreck noch immer in den Gliedern.
Ich beschließe meine Wanderung am gegenüberliegenden Bachufer fortzusetzen und halte Ausschau nach dem Tier, das ich jedoch nicht mehr ausmachen kann. Einzelne Spaziergänger werfen mir verwunderte Blicke zu, als ich immer wieder im Gebüsch verschwinde, um nach dem Reh zu suchen. So bleibt mir nur die Hoffnung, dass es bald wieder auf seine Artgenossen trifft.
In Zukunft sollte ich auf meinen Walkingtouren wohl eine Drahtzange mitnehmen.
Dank an John Royle fürs stimmungsvolle Foto!
© Silvia Peiker 2021-10-04