Begegnung vor einem kleinen Bild

Story

Ich sah ihn nicht, als er neben mich trat, schrĂ€g von hinten kommend, ich fĂŒhlte es eher. Vielleicht auch hatte sich das Licht ein wenig verĂ€ndert, vielleicht war ein winziger Schatten auf das Bild gefallen, dem ich mich hier widmete.

Erschrecken Sie nicht, gnĂ€dige Frau. Gestatten Sie nur, dass ich mich ein wenig zu Ihnen geselle und gemeinsam mit Ihnen meinen Blick auf dieses wunderbare kleine Bild richte, das Sie genau wie mich hierher gefĂŒhrt hat.

Ich wollte mich umwenden, um irgendeine Floskel der Höflichkeit zu Ă€ußern, denn wenn sich jemand schon mit so wohl gesetzten Worten, wie man sie nur selten noch hört, nĂ€herte, so geboten es die guten Manieren, dass man ihm irgendein Zeichen des Wohlwollens gab, irgendeinen Ausdruck dessen, dass er nicht störe, ja dass man seine Gesellschaft vielmehr schĂ€tze, zumal man sich doch vereint sah vor einem Bild, das meist unbeachtet hier hing, denn es war keines von den großen und berĂŒhmten, sondern eines, fĂŒr das man ein besonderes Auge braucht, oder eben eine ganz besondere Geschichte, die einen hier stehen lĂ€sst, lĂ€nger als man sonst vor Bildern steht.

Aber er schnitt mir das Wort, das mir schon von den Lippen kommen wollte, ab, und mit einem Hinweis seiner Hand, die er auf das Bild richtete, hielt er mich davon ab, mich ihm zuzuwenden, so als sei es nicht wichtig, dass ich ihn ansah oder so als wolle er nicht angesehen werden.

Ich sehe Sie seit vielen Jahren hierher kommen, manchmal hÀufiger, dann wieder lange nicht, oft sehr lange nicht. Ich bin immer hier, ich zÀhle die Tage nicht, die ich hier verbringe, aber ich kann sagen, kaum einer kennt dieses kleine Bild besser als wir beide.

Ich wollte meinem Erstaunen Ausdruck geben, dass er mich kannte, doch wieder wusste er gestenreich zu verhindern, dass ich mich zu ihm umdrehte, was ich als paradox empfand, denn warum sprach er mich an, wenn er dann keine Antwort auf seine Ansprache wollte und wenn er sich nicht zeigen wollte, wo er selbst sich doch aufgedrĂ€ngt hatte, denn ich hĂ€tte ihn sicher nicht bemerkt, so vernarrt wie ich immer in dieses kleine Bild war, das ich tatsĂ€chlich, wie der Fremde so sicher behauptet hatte, seit langer Zeit immer wieder besuchte, mitunter mehrere Tage hintereinander, dann wieder ganze Jahre nicht, ohne dass ich dafĂŒr einen guten Grund hĂ€tte nennen können, weder fĂŒr die HĂ€ufigkeit noch fĂŒr die Seltenheit.

Ich weiß, dass Sie ihn suchen. Nein, nicht den, der hier auf dem Bild zu sehen ist. Das weiß ich schon, dass der seit Jahrhunderten tot ist. Sie suchen den, mit dem Sie vor sehr langer Zeit hier standen. Den, der Ihnen einst dieses Bild zeigte. Ihn, den dieses Bild fĂŒr Sie immer noch verkörpert. Ich wĂŒnschte, ich könnte Ihnen eine Botschaft von ihm bringen. Doch kommen Sie nur immer wieder. Ich will Ihnen sagen, dass auch er dieses Bild noch immer besucht. Der Zufall hat es bisher nicht gewollt, dass Sie ihn hier treffen. Doch nur Geduld. Eines Tages wird es so weit sein. Und dann muss ich nicht mehr lĂ€nger hier Wache halten, Tag fĂŒr Tag.

© 2022-10-25