Begegnungen

Sabine Schlager

von Sabine Schlager

Story
Schottland 1989 – 1998

Begegnungen

So richtig ins Bewusstsein bist du mir an einem kalten Wintertag im Gemischtwarenladen von Joe Webster getreten. Aus Langeweile hatte ich Mum zum Einkaufen begleitet. Das Wetter war zu schlecht gewesen, um zum Supermarkt zu fahren. Außerdem gab es bei Webster genug, um eine Woche eingeschneit zu überleben. Es schneite auch an diesem späten, dunklen Nachmittag. Kalter Wind fegte durch Shamrock Hills, sodass man sich an ein warmes kuscheliges Plätzchen wünschte.

Ich stand mit meiner Mum am Ladentisch und träumte vermutlich von Hawaii. <Magnum> war zu jener Zeit eine ausgesprochen beliebte TV-Serie, nicht allein wegen der tropischen Insel, sondern auch wegen des überaus attraktiven Hauptdarstellers.

„Natürlich können Sie die Rechnung für die Kohle am Monatsende bezahlen, Mrs. Darcey“, hörte ich die bekannte Stimme von Joe Webster sagen, woraufhin ich aufsah. Mum, die wartete, bis Mrs. Webster ihr den Schinken aus dem Kühlraum gebracht hatte, raunte mir zu: „Seltsam, ich dachte, sie wäre Stammkundin bei Stoke’s. Sie hat doch da als Buchhalterin gearbeitet?“ Tangierte mich wenig. Ich kannte Mrs. Darcey vom Sehen, mehr auch nicht. „Die arme Frau! Ob die Ehe hält?“ Mum musterte die hochgewachsene Frau, die etwas streng wirkte. „Mein Mann wird sich darum kümmern“. Sie wandte sich um. „Nicht wahr Reardon?“ Sie sprach munter weiter, ohne dass wir sie hinter den hohen Regalreihen wirklich gut sehen konnten. „Er ist öfter in der Gegend als ich“. Ich runzelte die Stirn. Wer mochte das sein? Folglich reckte ich meinen Hals und spähte zur Tür, die zum Lagerraum führte. Wie zufällig trafen sich unsere Blicke eine Millisekunde lang. Du hast vermutlich gespürt, dass ich dich angestarrt habe. Erst erwartungsvoll, dann frustriert und letztendlich seltsam angetan. Eine ganze Bandbreite an Gefühlen, die einen Teenager in wenigen Minuten durchströmen können.

Keine Ahnung, was du dir gedacht hast, als du meiner Person ansichtig geworden bist, zwischen übriggebliebener Weihnachtsdekoration, Lakritze, Früchtekuchen und dampfendem Punsch für Passanten, die sich kurz aufwärmen wollten. Wider Erwarten hatte mir der Blick in deine dunklen freundlichen Augen gefallen. Eine Erklärung dafür gab es nicht. Unser erstes Aufeinandertreffen, das sich mir ins Bewusstsein gebrannt hatte, war herzlich unspektakulär gewesen. Kein Ball mit Feuerwerk, sondern ein simpler Ladentisch mit alter Registrierkasse. Ich frage mich, ob du dich überhaupt daran erinnern kannst? Ich kann mir selbst nicht erklären, warum ausgerechnet diese banale Begegnung sich in meinem Gedächtnis festhalten konnte? Ich habe dich nie gefragt, wann du dich in mich verliebt hast, aber sicher nicht in diesem Augenblick. Dennoch wurden wir aufeinander aufmerksam und begannen uns füreinander zu interessieren. Einander zu begegnen, uns anzusehen und anzulächeln, wurde ein unverzichtbares Ritual in den nächsten Wochen und Monaten. Wir wussten nun, wer wir waren und wie es möglich war, uns zu sehen und zu sprechen.

© Sabine Schlager 2025-01-18

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Unbeschwert, Lighthearted
Hashtags