Bei der Palme um halb vier (I/II)

Anatolie

von Anatolie

Story

In einer Schmuckwerkstatt im Zentrum von Athen saß von mittags bis spĂ€t abends eine Frau vor mehreren Dutzend Ringen aus purem Gold. SorgfĂ€ltig verpasste sie den Rohlingen hier und dort einen Anstrich Nagellack. Unter der schĂŒtzenden Farbschicht behielt der Ring seinen natĂŒrlichen Glanz, wĂ€hrend das offene Metall nach einer Sanddusche im goldenen Matt erstrahlte. Die Haut an den Fingern der jungen Lady zeigte stellenweise Schrammen, die aussahen wie ein Sieb.

PĂŒnktlich gegen fĂŒnf huschte ein LĂ€cheln ĂŒber Olgas Gesicht. Dann spazierte Levon durch die WerkstatttĂŒr, nahm am freien Sessel neben ihr Platz, um den fertigen Ringen noch einen letzten sauberen Schliff zu geben. Manchmal neigte sie den Kopf ein wenig zur Seite und beobachtete ihn heimlich, wĂ€hrend sein Blick Ă€ußerst konzentriert den Polierstab fixierte.

„Kinder, es ist Schluss fĂŒr heute“, verkĂŒndete ihr Chef eines frĂŒhen Freitagabends. Feierabend war gewöhnlich erst um neun. Jetzt war es sechs. Auf Olga wartete zu Hause niemand. Zumindest nicht heute. Deshalb sagte sie verdutzt aber Ă€ußerst erfreut ja, als Levon sie ĂŒberraschend zum Essen einlud.

In einer versteckten Taverne, am Ende der belebten Ausgehmeile Plakas, drehte sich ĂŒber einer Feuerstelle ein prall bestĂŒckter Schlauch aus Fleisch und ZiegendĂ€rmen, “Kokoretsi” genannt. Levon hatte fĂŒr sie beide je eine Portion mit Pommes und Hauswein bestellt. SchĂŒchtern wie ein Kind sah sie ihn mit großen braunen Augen an. Schmunzelnd ergriff er ihre Hand. „Ich hab schon lange bemerkt, dass du heimlich zu mir rĂŒberschaust“. Und noch wĂ€hrend ihr der Mund vor VerblĂŒffung weit offen stand und ĂŒber ihr die Sterne anfingen zu tanzen, drangen von sehr weit her jene Worte an ihr Ohr, die mit einem Paukenschlag all das Strahlen wieder zunichte machten. „Eho Gynaika“. Die Kinnlade, die sich polternd zwischen Brust und Bauchnabel verfing, rutschte gleich eine weitere Etage tiefer, als er noch nachsetzte: „Und zwei Kinder habe ich auch“. In dem Moment kam die Bedienung. Die duftende Wurst verschwamm unter Olgas schleiernem Blick. Lustlos kaute sie an ein paar Bissen. Betretenes Schweigen senkte sich ĂŒber den Tisch.

Levon begleitete sie noch bis zur HaustĂŒr. WĂ€hrenddessen erzĂ€hlte er, dass seine Eltern aus Armenien stammten, er aber in der TĂŒrkei groß geworden war und nun mit Frau und Kindern in Athen lebte. Seit ungefĂ€hr 15 Jahren. TagsĂŒber hatte er noch einen anderen Job. „Aber das Geld von dort reicht nicht“. Sie konnten sich nur sehr rudimentĂ€r auf Griechisch verstĂ€ndigen. Levon sprach kein Wort Englisch und Olga kein TĂŒrkisch. Sie umarmten sich zum Abschied.

Gar nichts wĂ€re weiter geschehen, hĂ€tten sie sich nicht tĂ€glich bei der Arbeit wiedergesehen. Zwischen ihnen war ein Feuer entfacht, und es brannte unter den StĂŒhlen, zwischen all den Schleif- und BohrgerĂ€ten und hinter der Gesichtsschutzmaske lichterloh. Die Kollegen witzelten. Selbst den ChefitĂ€ten blieben die heißen Blicke der beiden nicht verborgen.

© Anatolie 2022-11-11

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