BEIM WÜRSTELSTAND

Margaretha Husek

von Margaretha Husek

Story

Geht es mir nur so? Ich spüre oder glaube zu spüren, dass das ganze Land mutiert. Und je mehr es mutiert, desto mehr erodiert. Der Respekt erodiert. Die Anständigkeit erodiert. Das Vertrauen erodiert. Der Konsens erodiert. Der Zusammenhalt erodiert. Die Ordnung erodiert, die Politik erodiert.

Ich war auf dem Weg zu einem Bekannten. Das Geräusch leerer Alu-Dosen, über die der Wind die Straße hin und her blies, ließ mich aufhorchen. In seiner Gasse lagen Gackerlsackerln mit Inhalt auf dem Gehsteig. Der schmale Grünstreifen zu seiner Stiege wich einer harten Betonwüste, verursacht von Hunden, die in den schmalen Grünstreifen koten, darauf urinieren und anschließend mit den Hinterbeinen die Halme ausreißen. Das Gras lag auf dem Gehsteig. Vollgestopft mit Müll verstellten einige Einkaufswagen den Eingangsbereich zu seiner Wohnung.

Am Nachhauseweg ging ich noch zu einem Würstelstand und kaufte mir eine Leberkäsesemmel. Der Würstelstand ist derzeit die einzige Chance, Essen, das nicht verpackt und durch Wärme aufgeweicht ist, zu essen. Der Würstelstand ist ein Meister der Krise. Verdankt er doch seine Existenz einer Krise. Die ersten Stände wurden in der k. u. k. Monarchie gegründet, um den Kriegsinvaliden aus dem Ersten Weltkrieg ein Einkommen zu sichern. Bis in die 70er-Jahre galten sie als Ausspeisung der Armen.

„No job, no money“, hörte ich jemanden hinter mir. „Mir ist es sogar recht, dass keine Lokale offen haben, die mich verführen. Nicht nur das Virus mutiert, auch wir selbst tun das. Im neuen AMS-Kurs ‚Wiedereinstieg‘ werde ich als 50-Jähriger zu einem 18-Jährigen umgeschult.“ Ich lachte bitter auf und schüttelte ungläubig den Kopf.

Auf der anderen Seite des Würstelstandes standen ein paar Bauarbeiter an den Tischen und tranken Bier. Ein Mann mit Bart lehnte an einem separaten Tisch. „Seit 26 Jahren sind Bohrmaschinen, Säge, Schrauben, Nägel und Platten meine Werkzeuge. Schweißen würde ich noch gerne lernen“, mischte er sich in die Gespräche der Bauarbeiter ein und lachte dabei verschmitzt. Er war orthopädischer Operateur.

Der Tag war windig, kalt mit fallweisem Graupelschauer und Schneefall. Es hatte so an die 8 Grad. Ich fröstelte. „Nächste Woche wird es wärmer!“, rief einer der Bauarbeiter zu mir herüber. „Ab nächster Woche bekommen wir 28 Grad: 4 Grad am Montag, 5 am Dienstag, 3 am Mittwoch, 5 am Donnerstag, 2 am Freitag, 5 am Samstag und 4 am Sonntag.“ Alle Anwesenden inklusive Würstelverkäufer ergötzten sich an dieser Aussage, der stoisch die Käsekrainer mit der Grillzange umdrehte. Ich verabschiedete mich mit erhobener Hand, die einen Gruß andeuten sollte.

Auf dem Heimweg stieg ich in den Zug ein. Ein Mann setzte sich auf einen Vierersitz, zog seine Schuhe und Socken aus und streckte seine Füße auf die Bank. Dann öffnete er eine Bierdose, wetzte mit der Hand zwischen seinen Beinen und murmelte in meine Richtung: “Ist das ein schönes Leben?”

Wie gesagt, auch das Benehmen erotiert.

© Margaretha Husek 2021-04-18

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