von Alice Rosenberg
Marilyn hatte einen der schrecklichsten Schultage: Dadurch, dass sie viel zu spät gekommen war und auch noch die meisten Unterrichtsmaterialien vergessen hatte, wurde sie von den Lehrern stark fertiggemacht. Sie wurde angeschrien und vor allen bloßgestellt, die Pausen verbrachte sie weinend auf der Toilette.
Sie wusste, dass sie eines Tages ihr Karma für ihre damaligen Fehler und Taten bekommen würde, jedoch hätte sie niemals gedacht, dass die Konsequenzen solche wären.
Sie versuchte ihr schluchzen wieder einzukriegen, als jemand plötzlich an der Kabinentür klopfte, hinter welcher sie sich eingesperrt hatte. „Mary, würdest du mir das Recht geben, hineinzutreten?“ Sie erkannte seine Stimme direkt. Oh, wie sie diese Stimme hasste. „Geh weg, ich kann dich nicht leiden, Diz.“
Der Tod trat durch die Tür als wäre keine dagewesen und hockte sich neben sie: „Ich könnte dir natürlich sagen, dass es mir leidtut, doch dies wäre eine Lüge. Und ich weiß, dass du in der Vergangenheit viel mit Lügen zu tun hattest.“
Sie sah ihn verzweifelt an. Zitternd hielt sie sich die Hände vor ihr Gesicht und weinte still.
Der Tod beobachtete sie. Er musste sich noch nie einer solchen Situation stellen. Er verspürte ein Gefühl im Inneren seines eiskalten Körpers. Wärme. War es Mitleid? Er wusste genau, dass ihm Mitgefühl stets untersagt war. Jedoch konnte er nicht mehr bloß zusehen, wie Marilyn weinte.
Vorsichtig legte er ihr eine Hand auf die Schulter und umarmte sie langsam: „Ich weiß, dass du es bereust. Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich gebe dir recht. Ein menschlicher Fehler sollte nicht über unsere gesamte Zukunft bestimmen. Aber du bereust es und das ist gut. So weißt du immerhin, dass du es verdienst, du kannst bloß nicht damit umgehen.“
Langsam legte sie ihre Hand auf seine und er spürte sie. Dies war kein gutes Zeichen.
Plötzlich realisierte er, was er gerade tat. Es war ihm verboten. „Sehe mich an.“, sagte er laut, „Marilyn, sehe mich an!“ Er machte ihr Angst, also sah sie zu ihm hoch und sie traf ein leerer Blick. Die Schwärze seiner Pupillen verbreitete sich nun in den gesamten Augen. Der Tod sprach. Die Worte flossen aus seinem Mund wie schwarzer Rauch:
„Marilyn, vergesse das, was ich gerade sagte, verdränge es. Gehe zurück zur Klasse und denke nur noch an das negative. Heute ist ein schrecklicher Tag. Denke daran.“
Und sie gehorchte. Verwirrt stand sie auf und trat aus der Kabine. Als sie den Raum verlassen hatte, richtete sich auch der Tod wieder auf.
„Bemitleidenswerte Wesen, diese Menschen.“ Murmelte er fassungslos vor sich hin, während er in den Spiegel sah. Keine Spiegelung. Auch nicht auf Bildern zu sehen. Marilyn war die einzige, die ihn sehen konnte.
© Alice Rosenberg 2025-04-24