von Christine Höfler
Liebe C.!
Deutlich erinnere ich mich an die Hitze, die mein erhobenes Gefühl befeuerte, als ich durch die Tempelruinen Paestums ging. Vielleicht erinnert Dich dies Büchlein dort an den kalten schönen Winter, den wir gemeinsam hatten.
N.
Ich wusste, dass diese Zeilen nicht das Gleiche für ihn bedeuteten wie für mich. Die Wahrheit traf mich mit voller Härte an meinem zweiten Tag in Italien, als ich sein blasses Gesicht auf meinem Laptopbildschirm sah und er mir sagte, dass er sich über mein Kontaktbedürfnis wundere. „Total locker“ wäre das doch alles zwischen uns. An diesem Abend ging ich das erste Mal aus. Ich lebte mit einem spanischen Mädchen zusammen, die viele italienische Freunde hatte, und immer bekifft war. Sie sah aus wie Schneewittchen: Ihr Haar so schwarz wie Ebenholz, ihre Haut so weiß wie Schnee (vermutlich, weil sie nur abends rausging) und ihre Lippen so rot wie Blut (in Italien gibt es mega (!!!) mäßiges Makeup.) Alle liebten es zu essen und zu trinken. „Oh mein Gott, wir haben soooo viel gemeinsam.“, dachte ich. Wir lebten in einem schmalen Haus, in einer kleinen Wohnung mit Plastikschiebetüren in jedem Zimmer, in der das Bad in der Küche und die Nachbarn nie zu sehen waren, in einer merkwürdigen, aber sicheren Gegend, beleuchtet und beschützt durch die Eigentümer zahlreicher Juweliergeschäfte.
Wenn wir Besuch hatten, mussten die Gäste die Küche räumen, sodass eine Person auf die Toilette konnte. Sonst hätte man auch bei dieser Gelegenheit nebeneinander gesessen – mit Blickkontakt, sehr intim das Ganze. Wir aßen saftige Pizza, tranken zahllose Cocktails, rauchten selbstgedrehte Zigaretten und hingen bis in den frühen Morgen auf den Piazzas ab. Nach und nach fand ich eigene Freunde, mit denen ich verreisen, essen, trinken und zum Strand gehen konnte. Ein Mann gefiel mir besonders. Er war extrem einfühlsam, herzlich und klebte an mir wie ein klebriger Kaugummi an einer trockenen Schuhsohle. In sechs Monaten gab es keinen Tag, an dem ich nicht in seinen dunklen Augen zu versinken drohte.
Ich verliebte mich unsterblich in ihn. Wir waren die Art von Paar, die sich in Gegenwart anderer viel zu viel anfasste und damit alle anderen in Verlegenheit brachte. Ein Kopf, ein Arsch. Oder Eimer auf Arsch – wie auch immer – du weißt, was ich meine.
In Neapel lernte ich viel über das Leben, vor allem es in vollen Zügen zu genießen, nicht zu warten und mit ganzer Kraft zu l(i)eben. Als Stadt, die am Fuße eines Vulkans erbaut wurde, mehr als passend. Hier trinkt, isst und lebt man, als würde im nächsten Moment der Vesuv Funken sprühen und die Menschen unter seinem Geröll begraben, wie es einst in Pompeji passierte. Ich fragte mich, ob man das nicht immer so machen sollte, auch wenn man nicht in einer unmittelbaren Gefahrenzone lebte, da das Leben ja schließlich insgesamt schon eine Gefahrenzone darstellt, Risiko zu sterben: 100 Prozent. Risiko vorher nicht richtig gelebt zu haben: viel zu groß.
© Christine Höfler 2021-02-13