Berlin – unzensiert!

Bille

von Bille

Story

Samstag, irgendwann nachts.

Ich steige aus dem Zug, die Türen öffnen sich, entlassen die verbrauchte Kölner Luft – im Begriff, das gesamte Gleis zu verpesten. Die Passagiere, die mit mir ausgestiegen sind, gucken sich um, als würden sie ihre Füße auf ungesichertes Terrain setzen. Ist das Pudding oder eine Bärenfalle, in die ich gerate tappe? Oder ist es einfach: BERLIN!?

Fünf Stunden saßen wir zusammen, das gleiche Ziel vor Augen und – schnipp! – wir kennen uns nicht mehr.

Meine Schwester hängt noch in einem Modelshooting fest.

„Fahr einfach schon mal in meine Wohnung, den zweiten Schlüssel soll Mama dir geben. Kastanienallee, Prenzlauer Berg bzw. Mitte, findste!“

Klimpernd mit meinem Schlüsselbund in der Jackentasche verlasse ich die Bahnhofshalle.

Das Klima hier ist ganz anders. Frischer, kälter, unzensiert. Genau wie die Menschen.

Ihre Blicke lassen darauf schließen, dass sie es wittern.

Sie. Gehört. Nicht. Hierher. Sie ist nur ein Landei und bildet sich ein, aus Köln zu kommen, ändere etwas. Doch es zählt nicht. Köln ist nicht Keppeshausen (wo??? Eben!), aber auch nicht Berlin.

Es ist wie mit den Gelegenheitsjoggern, die sich mit Usain Bolt oder so vergleichen. Es ist ganz einfach … weniger.

Und genauso fühle ich mich gerade: weniger.

Endlich!

Das vierte Taxi hat mich nicht „übersehen“. Der Fahrer rollt mit den Augen, als ich mein Handy hervorhole, um die genaue Adresse durchzugeben. Er nickt, nimmt einen letzten Bissen von seinem Thunfischsandwich und schon tuckere ich durch die Stadt ohne Limits. Einzig ignorant gegenüber den Ignoranten.

Die Fenster sind dreckig und beschlagen mit Lebenserfahrung.

Ich träume von den ganzen Geschichten, die in diesem Wagen wohl schon ein- und ausgegangen sind wie Münzgeld.

Eine adrette Frau Mitte vierzig, eine Affäre mit dem Steuerberater, die Strumpfhose entsorgt, bevor sie nach Charlottenburg zu ihrem Mann sowie entzückenden drei Kindern zurückfährt.

Ein Teenager-Knabe, der hofft, dass er den guten Stoff, wegen dem er überhaupt auf die Party in Wedding eingeladen wurde, nicht verschüttet.

Zwei Freundinnen auf der Pirsch nach einem Lückenbüßer in der Odessa Bar; den Lippenstift noch schnell nachgezogen, wenn gerade kein Schlagloch in Sicht ist. Ein betrunkener Ex-Rockstar in Richtung Brandenburger Tor mit einer Ladung Graffiti im Gepäck, der die Welt aus dem üblichen Grund hasst: keinem.

Ja, mir wurden schon viele dieser Vorlagen für Drehbücher zugetragen und niemals durfte ich selbst ein Teil von ihnen werden. Heute ist es an mir, das endlich zu ändern.

Berlin, ich gehöre ganz dir!

Mach mit mir, was du willst. Liebe mich, verachte mich, verschleiße mich!

Nur bitte, bitte: Verschon mich nicht.

© Bille 2022-02-10

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