Berlin, heute haben wir unser 10-Jähriges. Ob du willst oder nicht, du bist die längste Beziehung, die ich je hatte. Sicher, es war nicht immer einfach, aber zumindest von meiner Seite kann ich sagen: Es ist Liebe.
Ich habe dich mir ausgesucht. Ich wollte dich haben. Ich hab um dich gekämpft und am Ende habe ich dich bekommen. Du hast mich wirklich nicht mit offenen Armen empfangen in diesem kalten Winter mit deinem nicht enden wollenden Grau. Fast hätte es geklappt und du wärst mich wieder losgeworden. Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, dich zu verlassen, während ich mich wieder und wieder auf deinen schmutzigen Straßen verlief.
Doch irgendwie haben wir dann doch zueinander gefunden. Du und ich.
Und heute sind wir untrennbar miteinander verbunden. Du bist zu meinem begehbaren Poesiealbum geworden. Wenn ich in dir spazieren gehe, begegne ich meinem längst vergangenen Selbst.
Damals, die Ankunft in Friedrichshain, Aufbruchstimmung, voller Träume und Ideale. Der erste Job in Kreuzberg. Da bin ich ganz schön auf die Schnauze geflogen, weißt du noch? Endlose Sommernächte am Spreeufer in Bars aus einer Zeit, die es schon lange nicht mehr gibt. Nicht nur ich habe mich verändert in den letzten zehn Jahren, du auch. Das kannst du nicht leugnen.
Plötzlich habe ich wieder studiert. Befreiung, Horizonterweiterung. Endlich nach Neigung und nicht nach Vernunft. Ja, das kannst du echt gut, Berlin. Du lädst dazu ein, unvernünftig zu sein und Dinge zu tun, die eigentlich keinen Sinn machen. Das mag ich so an dir, auch nach all der Zeit noch. Obwohl auch du ein bisschen vernünftiger geworden bist über die Jahre.
Ach, und diese Straßenecke in Neukölln, an der ich immer abbog, wenn ich zu ihm fuhr. Noch heute bekommt mein Herz einen Stich, wenn ich dort vorbeifahre und nicht mehr abbiege. Vielleicht nie wieder abbiegen werden. Wozu auch? Da ist nur eine Sackgasse. Letzte Woche hat auch noch das Café zugemacht, in dem ich ihn kennengerlernt habe. Recht hast du, Berlin. Diese Zeit ist vorbei.
Richtig garstig warst du zu mir, als mir mitten in der Nacht meine Handtasche geklaut wurde und ich plötzlich mittellos war. Der Freund, bei dem ich Unterschlupf fand, lebt schon lange nicht mehr. Doch immer wenn ich an seiner alten Wohnung vorbeilaufe, denke ich an ihn und manchmal mache ich einen kurzen Stopp in der Bar, in der wir uns damals auf den Schock noch einen Whiskey gegönnt haben. Und für einen ganz kurzen Moment sitzt er dann wieder neben mir am Tresen.
Zehn Jahre unseres Lebens haben wir miteinander geteilt, Berlin. Ich habe mir ein Bild von dir aufgehängt: Einen Stadtplan, in dem ich kleine Notizzettel an die Orte gepinnt habe, die uns ganz besonders verbinden. Dieser Stadtplan erzählt mein, nein unser Leben. Manchmal frage ich mich, wann du so vollgeschrieben bist mit meinen Erinnerungen, dass kein Platz mehr bleibt und du mich einfach ausspuckst. Und dann bin ich froh, dass du so groß bist und es noch so viele unbeschriebene Ecken in dir gibt.
© murielmorgenstern 2022-03-18