Okay, eigentlich hätte der letzte Shot nicht sein müssen. Warum genau tue ich mir das eigentlich jedes Jahr wieder an? Langsam hätte ich doch aus den vergangenen Jahren lernen müssen, dass mir dieser Karneval-Lifestyle mit Multipler Sklerose so gar nicht guttut. Mache ich es trotzdem? Ja. Ist es ein super Verdrängungsmechanismus? Ja. Ist mir bewusst, wie sehr ich mir eigentlich damit schädige? Doppeltes Ja. Aber es waren auch fünf Tage des Vergessens, des Tanzens, Singens und Lachens mit all meinen Freund:innen. Einfach mal abschalten und ausblenden, wie beschissen es mir eigentlich geht. Auch ohne Alkohol bin ich oft genug schwankend unterwegs, durch mein fehlendes Gleichgewichtsgefühl. Oder die Tatsache, dass ich kein Sensibilitätsgefühl mehr in meiner linken Hand habe. Die Fatigue, die mich dreimal am Tag übermannt, ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann und mein Körper förmlich nach Schlaf und einer liegenden Position schreit. Nicht sehr förderlich für einen normalen Alltag. Eine Zukunft bei meinem bisherigen Unternehmen habe ich nicht, das wurde mir bisher mehr als eindeutig klargemacht. Wie sollte denn auch eine junge Frau mit meiner Krankheit lange in einem von Männern dominierten Unternehmen sich über Wasser halten können, wo nicht über Schwächen, Gefühle oder Ähnliches gesprochen, sondern nur gelacht wurde? Keine Schwäche zeigen, Ellenbogen raus, bloß nichts anmerken lassen. Die Witze von den Kollegen über meine Krankheit und die Symptome mit einem Lächeln abtun, innerlich zerbrechen. Tja, ein guter weiterer Grund, weshalb die letzten Tage mal wieder Druckbetankung nötig war. Aber eigentlich … eigentlich macht mich das auch unglücklich. Tief im Inneren möchte ich das auch nicht. Mich sicher fühlen, mich verstanden fühlen, nicht mehr krank sein, DAS möchte ich. Aber ich habe das große Los gezogen – Multiple Sklerose ist nicht heilbar. Und das mir die Ärzt:innen nur Flyer in die Hand drücken, wo Menschen im Rollstuhl zu sehen sind, macht die ganze Sache nicht besser. Ob ich irgendwann auch einen Rollstuhl brauche? Einmal musste ich das Medikament schon wechseln, in der Regel bedeutet es, dass meine flackernden Lichter, wie die Ärztin sie genannt hat, ganz schön aktiv sind. Mein Kopf droht von dem Gedankenkarussell zu zerplatzen, ich fasse mir an den Kopf und wälze mich in meinem Bett hin und her. Wer, verdammt nochmal, hat sich das Konzept eines Katers ausgedacht? An meinem Hinterkopf fängt es an zu kribbeln, ein Gefühl von tausend Ameisen, welche sich ihren langen Marschweg vom Hinterkopf nach vorne in Richtung linker Gesichtshälfte suchen. Ich schließe die Augen und versuche mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Hauptsache, ich muss mich nicht übergeben.
© Gina de_Jesus_dos_Santos 2023-11-16