von Sonja M. Winkler
Der Schein trügt. Das gilt offensichtlich auch für Wörter. Bis dato dachte ich, in „betucht“ stecke „Tuch“, und daher hätte das Wort ursprünglich jemanden bezeichnet, der es durch den Handel mit Textilien zu erklecklichem Wohlstand gebracht hat. Stimmt nur teilweise. „Betucht“ wurde nachträglich an “Tuch” angeglichen, kommt jedoch aus dem Jiddischen und bedeutet „vertrauenswürdig“, eine Eigenschaft, die gewiefte Händler an ihresgleichen schätzen, weil sie sich in Sicherheit wiegen können, dass sie nicht hinters Licht geführt werden.
Die „Tuchlauben“ gehören zu den ältesten Straßenzügen Wiens. Schon Ende des 13. Jahrhunderts ist der Name „Unter den Lauben“ belegt.
Althochdeutsch louba bezeichnete ein Schutzdach aus geflochtenen Ästen und Zweigen und später eine überdachte Hütte. Die Römer fanden an solchen „Bauwerken“ Gefallen und entlehnten das Wort. Was die Franzosen, Engländer und Italiener daraus machten, kennen wir: Loge und Logis, Lodge und Loggia.
Unter Lauben im engeren Sinn verstand man Laubengänge, die entlang des Erdgeschoßes von Gebäuden verliefen und zur Straße hin Arkaden aufwiesen. So war gewährleistet, dass die Händler leicht Zugang hatten zu den Geschäftslokalen, in deren Gewölben schon im frühen 13. Jahrhundert teure Stoffe aus Flandern feilgeboten wurden. Für die Tuchhändler war das ein lukratives Geschäft. Man nannte sie auch Laubenherren. Die meisten waren betucht, demnach finanzkräftig.
Der Tuchhändler, der um 1400 im Haus Tuchlauben 19 wohnte, scheute weder Kosten noch Mühen, als er eine Wandmalerei für den Festsaal in der Beletage in Auftrag gab. Es sind die ältesten profanen Fresken, die je in einem Wiener Wohnhaus freigelegt wurden, die Neidhart-Fresken. Ich war kürzlich dort.
Als ich Studienassistentin war, zog mich Professor W. oft heran fürs Protokollieren der Lehramtsprüfungen. Ich saß im Rücken der Prüflinge, mit Notizblock und Bleistift, und schrieb alles mit. Worauf ich besonders achtete, war die Körpersprache des Professors, ein Stirnrunzeln bei falschen Antworten, ein heftiges Nicken, wenn er hörte, was er hören wollte. Ich kannte seine Lieblingsfragen. Er mochte Neidhart von Reuenthal und fragte gern, inwiefern er dem Hohen Minnesang eine Abfuhr erteilt habe und was der Unterschied zwischen den Sommer- und Winterliedern sei. Ich fing an, mich für den Revoluzzer zu interessieren, der in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts wirkte, die Dinge beim Namen nannte und triebhafte Erotik in seine Lyrik einfließen ließ.
Jahre vergingen. Ich lernte L. kennen und verliebte mich. Als er mir seine Wohnadresse nannte, war ich bass erstaunt. Reuenthalgasse, sagte er, der Witzmann-Hof hinter der Stadthalle.
Dieser Gemeindebau im 15. Bezirk, einst ein fortschrittliches Projekt des Roten Wien, soll ziemlich heruntergekommen sein. L. wohnt schon lange nicht mehr dort. Er ist aufs Land gezogen.
© Sonja M. Winkler 2022-02-16