Bewegendes Dresden

Christine Sollerer-Schnaiter

von Christine Sollerer-Schnaiter

Story

Ich bin überrascht und gerührt. Zwei Mädchen singen Wanderlieder, Jungscharlieder, Lagerfeuerlieder. Gerade habe ich in der Frauenkirche meiner Freundin Hanni aus Schultagen gedacht und jetzt diese zwei Mädchen am Straßenrand. Ich kann es nicht fassen. Ich fühle mich Jahrzehnte zurückversetzt, als wir singende Mädchen waren. Sie singen aus Freude – so wie wir. Natürlich freuen sie sich auch über die paar Euro, die ihnen zugeworfen werden. Sie singen so klar, so schön, so leicht – so habe ich es nie gekonnt, aber die Freude, die Begeisterung, die Frische, die Hoffnung – wie vor 60 Jahren. „Wir wollen im grünen Wald ein freies Leben führen“. Die Wandervögel sind immer noch unterwegs.

Ich nehme an einem Kongress der Existenzanalyse in Dresden teil und nütze jede freie Minute – manche Vorträge schwänze ich – um diese wunderbare Stadt zu erkunden. Es ist 1. Mai und am Neuen Markt, direkt unter meinem Hotelfenster, wird ein Maibaum aufgestellt – von der Zunft der Zimmerleute in ihrer schwarzen Zunftkleidung. Dann tanzen Studenten aus aller Welt in ihren landesüblichen Trachten um den Maibaum. Lange Bänder werden durch diesen Tanz kunstvoll um den Stamm gewunden. So anders – auch die Musik so echt, so schön – anders als Folkloreveranstaltungen bei uns in Tirol. Am Schluss tanzen alle – auch ich. Ich tanze in den Mai!

Am Abend sitze ich in einem Café vor der Oper, die Semper Oper, die mir vom Fernsehen gut bekannt ist. Das Programm ist aus, und die Menschen ergießen sich auf diesen wunderbaren Platz. Kreuz und quer strömen sie ihren Bestimmungen zu. Ein Trompeter bringt die Atmosphäre mit den bekanntesten Opernmelodien zum Klingen. Eine ältliche Dame – fein herausgeputzt mit elegantem Minikleid und Stola, Haare vom Friseur, gekonnt geschminkt – versucht mit ihren High Heels das Kopfsteinpflaster zu besiegen. Unsere Augen begegnen sich. Es tröpfelt, aber der Schirm, unter dem ich sitze, Spargelsüppchen schlürfe und hervorragenden deutschen Wein trinke, hält dicht. Die Fenster der Oper sind noch beleuchtet und Leute stehen im Foyer und feiern.

Natürlich habe ich auch das beeindruckende Residenzschloss des Kurfürsten von Sachsen besichtigt und die Schätze im Grünen Gewölbe bestaunen dürfen – bevor es ausgeraubt wurde. Gestern konnte ich ein Orgelkonzert in der Frauenkirche besuchen. Der evangelische Pfarrer sprach bewegende Worte. Er habe keine fixe Pfarrgemeinde, sondern jeden Tag eine neue Besuchergemeinde. Zu wenig Bewohner leben rund um den Neumarkt – nur neu wiederaufgebaute Häuser – die meisten Geschäfte, Gasthäuser und Hotels. Er versucht den Dialog mit allen – auch der rechtsextremen Szene, aber das gelingt noch nicht gut.

Das zerbombte Kreuz der Kuppel steht in der Kirche. Ein neues prangt auf der wiedererrichteten Kirche, gefertigt von einem Londoner Silberschmied, der erst im Laufe seiner Arbeit erfahren hat, dass sein Vater bei der Bombardierung durch die Alliierten dabei war. Was für eine Versöhnung. Die ganze Welt hat mitgearbeitet, gespendet und tut es immer noch. Freiwillige kommen, um hier Dienste zu verrichten. Der Mensch ist immer wieder wunderbar …

© Christine Sollerer-Schnaiter 2020-11-20