von Sandra Schütze
Niemand wird sich je an mich erinnern. Niemand wird die unsichtbaren Spuren sehen, die ich Tag für Tag in dieser Welt hinterlasse. Aber vor allem wird es niemals jemanden geben, dem das wichtig wäre. Denn bis heute kennt niemand meinen Körper.
Als Kind habe ich mir nie Gedanken über meine Figur gemacht und mich einfach nach Lust und Laune bewegt, wie es mir gerade in den Sinn kam. Ich bin lieber den weiten Weg mit dem Fahrrad zur Schule gefahren, als auch nur eine Minute lang auf den einzigen Bus warten zu müssen, der sowieso niemals schneller zu Hause war als ich. Es war schön meine Energie freisetzen zu können und die unterschiedlichsten Sportarten auszuprobieren. Doch leider sollte das nicht so bleiben.
Am längsten und ausdauerndsten habe ich Judo gemacht. Ich war viele Jahre im Verein, doch mit der Zeit wurde diese Sportart zu einer lebensfüllenden Aufgabe. Ich weiß nicht mehr, warum ich schließlich dreimal in der Woche zum Training geschickt wurde oder warum ich auch an den Wochenenden dauernd zu Turnieren fahren musste und eine Niederlage nach der nächsten einsteckte. Ich weiß nur noch, dass es mir nicht gut getan hat. Nicht wegen des Mangels an Medaillen, sondern wegen des Mangels an Zeit. Und dann kam auch noch die Pubertät dazu.
Ich erinnere mich auch heute noch ganz genau an den Moment, an dem mich mein damaliger Judotrainer zum Training in der Halle begrüßte. Er musterte mich an diesem Tag prüfend, sah mich von oben bis unten an und machte dann eine ausladende Geste mit den Händen, als würde er eine strahlende Sonne in die Luft zeichnen. Er sagte: „Gesicht so.“ Dann kreuzte er seine Hände mehrmals über der Bauchmitte und schüttelte den Kopf: „Körper so.“ Das war das erste Mal in meinem Leben, dass mich jemand für meine Figur kritisierte. Und es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein.
Nachdem ich mich schließlich erfolglos an weiteren Sportarten versucht hatte, hörte ich schließlich ganz auf. Mir war bewusst geworden, dass statt meines erhofften Spaßes ein hoher Leistungsdruck herrschte, dem ich weder standhalten konnte, noch wollte. Zudem mehrten sich die bösen Stimmen gegen meinen Körper, die mich immer mehr verunsicherten. Sogar im Sportunterricht wurde ich irgendwann als eine der Letzten gewählt, obwohl ich sehr gelenkig war und zu den schnelleren Läuferinnen der Klasse gehörte.
Das Problem war vielleicht nicht direkt mein Körper, sondern die Angst, die ich beim Sport ausstrahlte. Denn wenn mir durch die Anstrengung das Herz bis zum Hals schlug, erinnerte ich mich unwillkürlich auch an die Panik, die eng damit verknüpft war. An die Momente, wenn ich es nicht rechtzeitig schaffte in mein Zimmer zu entkommen, um den Schlüssel schnell genug im Schloss herumzudrehen.
Bewegung verursachte in mir einen Fluchtinstinkt, sorgte für Druck und schließlich auch zu einer Ablehnung gegenüber meinem Körper und mir. Sie verkam als Mittel zum Zweck, bis ich gänzlich die Freude daran verlor. Und damit auch einen weiteren Teil von mir.
© Sandra Schütze 2022-08-17