von Marianna Vogt
„Frau Müller, gestern hatten wir wieder mal viel Spaß im Unterricht. Wir durften ‚Bewerbungsschreiben‘ verfassen.“
Ihre Chefin runzelte die Stirn: „Ach Kindchen, dieses Thema haben wir doch bereits beim letzten Semestergespräch behandelt. Dank deiner hervorragenden Leistungen habe ich dir zugesichert, dass du nach Beendigung der Ausbildung hier weiterarbeiten kannst.“
„Das weiß ich doch, Frau Müller und dies schätze ich auch sehr. Ich bin eine der wenigen, die in ihrem Lehrgeschäft bleiben darf. Aber es war eine Übung ganz spezieller Art.“ Holly kicherte.
„Jetzt machst du mich neugierig, Holly. Erzähle mir bitte mehr davon!“, forderte Frau Müller sie auf.
„Also dies ging so. Jeder durfte sich ein Kärtchen ziehen. Darauf stand eine ganz besondere Berufsbezeichnung. Die Aufgabe bestand darin sich so überzeugend zu verkaufen, dass man diesen Job tatsächlich auch bekommen könnte.“
Neugierig fragte Frau Müller: „Außergewöhnliche Jobs – für die ihr euch bewerben musstet? Gib mir Beispiele, damit ich mir etwas darunter vorstellen kann, Holly!“
Das Mädchen dachte kurz nach, dann antwortete sie: „Da gab es den Testesser, den Erschrecker, die Mystery-Shopperin, den Industrie-Kletterer, die Stunt-Woman, der Food-Stylist, die Dipl. Kuscheltier-Beraterin und die Glückskeks-Autorin.“ Holly schmunzelte. „Wollen Sie wissen, welches Kärtchen ich gezogen habe, Frau Müller?“
„Oh ja, liebend gerne, Kindchen!“
„Wasserrutschen-Testerin.“ Holly lachte herzhaft.
Ihre Chefin klatschte freudig in die Hände und setzte sich Holly gegenüber.
„Also wortwörtlich kann ich es nicht wiedergeben, Frau Müller, die Unterlagen habe ich nicht vorliegen, aber in etwa lautete meine Bewerbung so:
Ich bin die absolut ideale Person als Wasserrutschen-Testerin, weil ich Sommer wie Winter täglich schwimmen gehe. Am allerliebsten mag ich Wasserrutschen, je länger und kurvenreicher, umso lieber. Frisur-technisch habe ich absolut kein Problem, da ich eine Glatze trage und ein Badekleid habe ich auch stets zur Hand.
Erlauben Sie mir bitte die Frage, ob Sie bereits mit einem Bademodenhersteller zusammenarbeiten? Dies wäre eine Win-Win-Win-Situation für jeden von uns dreien.
Ich hoffe, ich konnte sie mit meiner Bewerbung neugierig machen und Sie laden mich in Kürze zu einem Wasserrutschen-Test ein.
„Natürlich habe ich das Schreiben noch mit ein paar Einführungs- sowie Schlusssätzen garniert. Aber die wollten Sie bestimmt nicht hören, sondern nur den ‚Hauptgang‘.“
„Genau – ich muss dir gratulieren, Holly. Dies hast du sehr gut hingekriegt.“
Frau Müller stand auf und formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. „Ich bin gespannt, welche Note und Kommentar du dafür bekommen wirst. Aber jetzt ist die Pause auch schon wieder herum und wir haben noch einiges zu tun. Die Monatskataloge müssen wir alle heute noch verpacken und zur Post bringen.“
„Alles klar, Frau Müller, ich werde Sie auf dem Laufenden halten.“ Während sie sprach, holte sie die ausgedruckten Adresskleber und lief zum Packtisch hinüber.
© Marianna Vogt 2025-03-30