Bibliothek meines Vaters

AK_Grundig

von AK_Grundig

Story

Ich ziehe mich in die Bibliothek meines Vaters zurück. Die Gesellschaft von Büchern beruhigt mich. Alles muss im gleichen Verhältnis auf seinem Schreibtisch liegen: Linien, Kreis, Viereck, ein Blatt Papier liegt niemals quer auf dem Tisch, während der Rest im Zimmer im Chaos versinkt. Als Kind saß ich oft auf dem Chefsessel und dreht mich so lange, bis die Bücherregale um mich herum ein Himmelsdach bildeten. Ich schenke mir einen Whisky ein und setze mich auf den besagten Stuhl, der mir heute viel kleiner vorkommt. Langsam drehe ich mich und die Bücher verschwimmen vor meinen Augen. Ich frage mich, was aus dem Mädchen geworden ist, das einst hier mit unbeschwertem Herzen saß. Warum kann ich nicht so leben wie mein Bruder? Geradlinig, pragmatisch und sicherheitsliebend? Woher stammt der unersättliche Appetit auf das Leben, der mir den Magen verstimmt?

„Versteckst du dich?“, ertönt die Stimme meines Vaters. Mit festem Griff bringt er den Stuhl zum Stehen und blickt mir direkt in die Augen. Ich erwidere seinen Blick mit einem Lächeln und versichere ihm, dass ich mir lediglich einen Schluck seines Whiskys gegönnt habe. Lachend greift er nach der Flasche, um mir nachzuschenken.

„Du kannst von mir aus die ganze Bar leeren, aber nur unter einer Bedingung!“

„Die da wäre?“, frage ich.

Unbeirrt schlendert er zu seinem Schallplattenspieler.

„Welche Bedingung?“, wiederhole ich schließlich, um den Spannungsaufbau zu verkürzen. Doch mir schallen nur die Töne von Miserer Mei, Deus entgegen von einem Plattenspieler, der selbst meinen Vater überlebt. Ich lehne mich zurück und warte auf das Kratzen, das sich aller zwölf Sekunden wiederholt. Mein Vater zündet sich eine Zigarre an und setzt sich auf das massive Mahagoniholz seines Schreibtisches. Der Rauch strömt in wohlgeformten Wolken die Bücherregale hinauf. Aufmerksam verfolge ich die Reise des Qualms bis zur Decke, wo er sich am Stuck auflöst.

„Sag mir, was passiert ist!“

„Das ist deine Bedingung?“ Mein Herz rast. Gelassen atme ich aus, aber mein Vater ist immun gegen meine Ablenkungsmanöver.

„Mach mir nichts vor. Du kamst viele Male vom Krieg nach Hause. Doch diesmal ist es anders. Du bist anders. Was ist so schlimm, dass du es mit Whisky runterspülst?“ Nervös schlürfe ich an der stechend riechenden Flüssigkeit und verziehe mein Gesicht.

„Das Zeug schmeckt mir nicht mal.“ Ich erhebe mich, um die Flucht zu ergreifen, doch ein fester Handgriff hält mich zurück.

„Was ist passiert?“, fragt er mich einvernehmend. Ich starre in seine grünen Augen. Älter ist er geworden. Er ging in die Welt hinaus, als ich ein Kind war und ich ging in die Welt hinaus, als er ein alter Mann wurde. Wie viel Zeit haben wir verschwendet? Mit sanfter Stimme hauche ich ihm zu: „Die Liebe ist passiert!“

Für wenige Sekunden ist es still um uns. Noch immer hält er meinen Arm festumschlossen in seiner Hand. Er runzelt die Stirn, wobei sich tiefe Furchen abzeichnen. „Die Liebe?“, wiederholt er unglaubwürdig.

© AK_Grundig 2022-06-10

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