von Nora Beiteke
Es war einmal eine alte, einsame Bildhauerin. Sie war schon ihr ganzes Leben lang allein gewesen. Ihr Schicksal war es, sehr hässlich zu sein und ungeschickt im Umgang mit anderen Menschen. Sie war in ein fernes Land gezogen, in einen verwunschenen, ursprünglichen Wald. In ihr brannte eine tiefe Sehnsucht. Sie war eine absolute Romantikerin, sie liebte Liebesfilme und Romane. Ihr Verlangen war so tief wie nur das Verlangen einer Frau sein kann, die weiß, dass sich dieses Verlangen nie erfüllen wird. Also tat sie, was jede gute Künstlerin mit ihrem Verlangen tut und goss es in Kunst. Es war das Werk ihres Lebens. Der perfekte Mann mit den perfekten Linien, aus Marmor erschaffen. Hohe Wangenknochen, ein markantes Gesicht. Volles, welliges Haar. Ausdrucksstarke Augen. Breite, muskulöse Schultern und Arme, ein Oberkörper im perfekten V-Maß, gerade aufgerichtet, auf starken Beinen. Nicht zu groß, genau richtig, um sich anzulehnen und ihn zu küssen. Sie wusste, dass in ihrem Wald Feen gab. So ging sie tief in den Wald und rief die neugierigste der Feen mit den Worten, die sie aus einem alten Buch gelernt hatte. Sie war eine Erscheinung, langes, goldenes Haar, tiefdunkle, gefährliche Augen und sensationelle Kurven. Der Pakt war schnell geschlossen. Sie würde die Fee in Marmor gießen und prominent platzieren lassen, damit ihre Gestalt viel menschliche Bewunderung erfuhr. Dafür würde die Fee ihre Statur zum Leben erwecken. Aus Marmor solle ein Mann werden, charismatisch, schlau, liebevoll, mächtig und mutig. Ein Mann höchster Güte, ganz so, wie die idealen Männer aus ihren Romanen. Es geschah. Als sie vor ihm stand, ihr Herz überfloss und sie in seine nun lebendigen Augen blickte, war es sofort klar. Er verachtete sie, schon auf den ersten Blick. Die Fee hatte ihm genau die Eigenschaften der Männer aus den Romanen gegeben und ein solcher Mann würde sich nie mit ihr einlassen. Sie erhängte sich in ihrem Atelier und er ging in die Welt. Dort wurde er erst Schauspieler und stand auf Theaterbühnen. Das Publikum liebte ihn. Auch die Frauen verfielen ihm reihenweise. Er nahm die schönste und angenehmste und heiratete sie, wurde Vater. Doch er fühlte sich nicht zugehörig. Er änderte die Karriere, stieg die Konzernleiter empor bis ganz oben. Auch seine wunderbare Frau stelle ihn nicht zufrieden und er ließ sich scheiden. In seinem Aufstieg brachte er das Unternehmen nach vorne, konnte viele Erfolge verzeichnen. Immer wieder verführte er die schönsten und interessantesten Frauen. Doch nie blieb er bei ihnen, immer innerlich nicht ganz da. Alles, so schön es begann, zerbrach unter seinen Händen. Er war nun Geschäftsführer und die Zahlen tiefrot. Er suchte immer noch. Er wusste nicht wonach. Doch wir wissen es. Er suchte nach der blonden Fee mit den gefährlichen Augen. Wohl wissend um die Macht des Feenzaubers, den er in dieser Welt haben würde, hatte sie ihn verflucht. Alles, was er so einfach gewann, würde auch wieder zerrinnen. Schlussendlich war er kein Mensch, sondern ein Feenwesen. Er war zu schön, zu perfekt, zu gesund, zu charismatisch. Manchmal mischt sich die blonde Fee unter die Menschen. Er wartet darauf, ihr zu begegnen. Denn nur sie kann den Fluch von ihm nehmen, damit er endlich ankommen und sich ganz fühlen kann. Vielleicht begegnet er ihr bald und wir hoffen für ihn, dass er dann die richten Worte findet, um sie zu überzeugen. Damit sie ihn erlöst.
© Nora Beiteke 2024-09-13