von Lothar Frohwein
Mein Hals war wie zugeschnürt, und das nicht wegen des Gürtels, der um ihn lag. Die ganze Klasse lachte. Ich musste schlucken, doch auch ich versuchte, ein Lachen herauszubringen. Ich hatte nie gedacht, dass unsere Klassenlehrerin, Frau Brinkhaus, ihren Worten Taten folgen lassen würde, als sie sagte: „Wenn du Tim noch einmal vom Unterricht ablenkst, dann muss ich dich wohl an die Leine nehmen.“ Doch hier saß ich nun mit einer Lehrerin, die vor der gesamten Klasse mit ihrem Gürtel als Requisit so tat, als wäre ich ihr Hündchen. Bereits davor war ich in der Klasse nicht besonders beliebt gewesen. Ich war vorlaut, hatte immer mal wieder Scherze über andere gemacht. Schon immer hatte ich einen Humor, mit dem nicht jeder klarkam, doch spätestens jetzt hatte jeder den Respekt vor mir verloren.
Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich nicht mehr an viel aus dieser Zeit: Es sind eher schemenhafte Momente, die zwischen verdrängten Erinnerungen aufkommen. Ich erinnere mich an einzelne Momente der Gewalt, wie vom Fahrrad getreten zu werden, Wasserflaschen, die einem gegen den Kopf geworfen werden, oder dass mit einem Geodreieck auf mich eingestochen wurde. Doch all das sind die Dinge, die weniger wehtun als Freunde, die sich in der Zeit von einem abwenden und Teil haben an den täglichen Erniedrigungen.
Im Gegensatz zu mir war meinen Eltern schnell klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich wechselte also die Schule. Allerdings ohne jegliches Mitspracherecht. Ich selbst hätte mir nie eingestanden, gemobbt worden zu sein. Schlimm genug, dass andere mir diesen Stempel aufdrücken. Dann möchte ich mich doch nicht noch selbst in die Opferrolle begeben. Ich gebe mir selbst die Schuld an dem, was geschehen ist. Hatte es eigentlich nicht anders verdient. Bis heute habe ich mit niemandem über all das geredet. Meinen Eltern und Freunden verschweige ich nach wie vor das Meiste.
Mit dem Begriff Mobbing tue ich mich bis heute schwer. Er lässt sich meiner Ansicht nach schlecht definieren, da er viel mit subjektivem Empfinden zu tun hat. Auch für den Einzelnen ist schwer zu sagen, wann es anfängt und wann es aufhört. Vermutlich bin auch ich ein Mobber. Habe selber immer viel ausgeteilt. Aus Angst, aus Unsicherheit oder einfach aus Unsensibilität. Man kann Mobbing nicht erklären, kann es nicht verhindern und es bringt auch niemandem etwas. Und dennoch ist es wichtig zu verstehen, dass niemand aus purer Boshaftigkeit mobbt. Die beste Definition, die ich für Mobbing hätte, wäre vielleicht noch: Ungerechtigkeit. Frau Brinkhaus unterrichtet weiterhin, als wäre nie etwas gewesen. Die Leute, die andere als meine Mobber bezeichnen würden, haben genau wie ich ihr Abitur gemacht. Die Leute, die mal meine Freunde waren, haben neue gefunden. Und ich? Ich bin einfach der Verlierer bei dem Ganzen.
Falsch. Ich mag zwar in dieser Zeit durch Mobbing alles verloren haben und dennoch würde ich mich nicht als Verlierer sehen. Auch wenn es die wohl schlimmste Zeit meines Lebens war, würde ich sie nicht ungeschehen machen. Sie hat mich vieles gelehrt – über mich selbst und andere. Sie hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin.
© Lothar Frohwein 2024-10-21